Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Novapuls.01.2083

Megapuls.12.2082

Nakaira

[Nakairas Oase, 07.11.2082, 15:23:05 Uhr]

[[[[ NAKAIRA HAT IHREN ZUGANG GELÖSCHT ]]]

Nur sehr langsam verblasste die Schrift des just beendeten Schattentalks vor Nakairas Augen.

Sie lehnte sich in ihrem schweren, schwarzen, perfekt an ihren Körper angepassten Ledersessel zurück, sog die kalte, klare Luft ein und stieß sie langsam aus, warm, feucht und dampfend, wie sie es eingestellt hatte.

Sie setzte die mit dünnem Metall eingefasste Brille ab, die sie hier ebenso wenig brauchte wie in der Realität, und kniff sich in den Nasenrücken. Die Kühle der Luft machte ihr bewusst, dass da irgendetwas Nasses auf ihren Wangen war. Sie wischte es weg und atmete ruhig weiter.

Die von zu Hause geflohene Punk-Göre, die Sende-Revoluzzerin, die gestandene und mit einiger Sicherheit überbezahlte Medienkonzernerin befand sich in ihrer Oase, ihrem „Safe Space“, ihrem Wohlfühlort, ihrem von ebenso überbezahlten DeMeKo-Matrixdesignern auf Basis endloser Tiefeninterviews, psychotherapeutischer Management Assessments und jeder Menge Post-Awakening-New-Age-Drek geschaffenen Rückzugsort, der sie – so die Theorie – nach jeder noch so stressigen Situation in Rekordzeit „zentrieren“ und in den Alphamodus perfekter Leistungsfähigkeit zurückbringen sollte.

In ihrem Fall bestand die Oase aus einem kalten, klaren See, über den Nebelfetzen trieben. Umstanden von schwarzen Tannen, unter einem Nachthimmel, dessen Wolken von irgendeiner gigantischen Urkraft in göttlichem Rasen zerfetzt worden waren.

Ihr Aufenthaltsort – ihr „Zentrum“ – war ein schwebendes Eiland mit einem ebenso schwerelosen Granit, der ihr Schreibtisch war. Sie liebte es, die Hand langsam über seine Oberfläche gleiten zu lassen – schroff, uneben, widerspenstig und doch weich, zärtlich, ihr ergeben –, sodass alle Daten, die sie bearbeitete, sanft und lautlos aus seiner Tiefe auftauchten oder sich ihr als Fenster auf seiner sanft im Mondlicht spiegelnden Fläche darboten.

Sie erinnerte sich nicht mehr, ob sie das Master Control Interface des ursprünglichen Tron-Films als Grafik-Referenz bewusst angegeben hatte oder ob dies aus unzähligen Sitzungen der DeMeKo-Sorgenbeseitiger extrapoliert worden war (oder ob Monika dahintersteckte), aber sie fühlte die innige Beziehung, die sie zu Struktur und Kälte und Geruch und ebenjenem Klassiker hatte.

Klassiker.

Sie war 13, als sie von zu Hause weglief und nach Berlin ging. Exakt einen Tag nach der Beisetzung ihrer Mutter. Mit der sie eng gekuschelt alte Filme geschaut hatte, während sich draußen die Welt in Chaos auflöste. Vor der ihr Vater sich tunlichst zurückhielt. Die ihr ein ewiger Quell der Wärme war in einem düsteren, kalten Teil von Deutschland, wo die Tannen dicht standen und die Häuser in schwarzen Schindeln gedeckt waren, wo alles klein und normal und eng und artig und gläubig und angstvoll war.

Nakaira
Nakaira (jung)

Sie atmete tief, wusste, dass, wenn sie jetzt die Augen öffnen würde, am Rand der fernsten Ecke des Sees ein Haus zu sehen wäre (obwohl es in der Oase nie zu sehen war). Ein schwarzes Haus, mit schwarzen Dachziegeln und schwarzen Schindeln an den Wänden, drinnen mit schwarzen Möbeln und weißen Spitzendeckchen, schwarzen Dosen mit weichem Spekulatius, umstanden von schwarzen Tannen, gefüllt mit schwarzen Gedanken, tintenschwarzer Muttermilch, wir trinken sie morgens, wir trinken sie mittags, wir trinken sie nachts …

Scharf sog sie die Luft ein, blinzelte den Vater vor ihrem inneren Auge weg – nicht mal er alt genug, selbst Teil des finstersten Kapitels Deutschlands gewesen zu sein, aber oh, wie gerne wäre er es gewesen, er und seine Sammlung, seine Verbindung, seine Freunde, und alles gebadet in schwarzes Feuer und Träume davon, wie das Reich aus den Geburtswehen der Sechsten Welt neu entstehen könnte, und wie hatte ihre Mutter nur einen wie ihn …

Ihre Lider flogen auf und rissen sie aus dem jähen Abgrund der Erinnerung, der ihr eben noch kalt die Wirbelsäule emporgeschossen war. Sie zog den Pelz – hyperrealistisch, warm, liebkosend, und strich man durch ihn, tanzten sanfte Lichter über das feine Haar eines Tieres, das nie gelebt hatte – enger um sich, blickte dem dunstigen Stoß ihres Atems nach, wie er sich in der Nachtluft verlor.

Vor ihr lagen zwei Pillen, klar und glänzend wie Glas, eine rot, eine blau, und auch sie waren gestaltet nach einem uralten Film, den ihr Mama gezeigt hatte, als sie … wie alt war? Sieben? Neun?

Doch das hier war kein Entweder-oder, wie nichts in dieser Welt – ihrer Welt – ein Entweder-oder war. Sie nahm beide Pillen und führte sie in ihren Mund, der vorbereitete Kelch füllte sich selbst (tintenschwarze Muttermilch, wie in diesem Film mit dem Magier-Jungen und seinem alten Professor) und sie stürzte den bitteren Trank hinunter.

Weit weg in der Realität passierten zwei Dinge:

Ihr Vorgesetzter bei der DeMeKo empfing den Nachweis, dass sie alle Brücken zum „anarchistischen Terror-Untergrund“ abgebrochen hatte, damit zukünftig aus jener Verbindung kein Skandal mehr für das Unternehmen entstehen konnte (um die Ausräumung der Gefahr früherer Kommentare und Verbindungen würden sich im Bedarfsfall Spezialisten kümmern). Und wichtiger: Damit der Beweis erbracht war, dass sie ihre Seite gewählt hatte.

Das andere Ding war, dass eine Reihe vorab ausgewählter Kontakte stark verschlüsselte Informationen erhielten, ohne sie als Absender zu identifizieren, wenn alle Beauftragten ihren überbezahlten Dreksjob gemacht hatten – wovon sie nicht wirklich ausging.

Keine zwei Sekunden später erschien die erste Antwort. Penny, natürlich.

> Dein Dreksernst?

> Viel zu Ernst für einen Joke. Sogar für mich.

> Ich glaube dir nicht.

> Glaub, was du willst. Verifiziere, was du kannst. Überlebe oder lass es sein.

Ehe Nakaira auf den erwarteten langen Wortschwall ihrer früheren Geliebten reagieren konnte, bemerkte sie am Rand des Sees eine Gestalt.

SIE.

Nakaira stand auf, seufzte, haderte viel zu kurz und erwartbar sinnlos, ob sie hingehen oder die zerbrechlich wirkende Frau mit der weiß-pinken Undercut-Frisur ignorieren sollte, und stieß sich sanft vom Boden ab, um in einem grazilen Bogen langsam zu IHR hinzugleiten.

Nakaira landete wenige Schritte hinter IHR, aber sofern SIE sie bemerkte, reagierte SIE nicht. SIE kniete am Ufer, auf einem Knie, in der einen Hand ein Stock, mit dem sie kleine, kreisförmige Wellen machte, aber Nakaira hatte keinen Zweifel, dass sie bemerkt worden war.

„Hallo, Lycia“, sagte SIE.

IHRE Stimme war genauso wie in Nakairas Erinnerung. Sie wollte sich in diese perfekte Illusion ihrer Erinnerung fallen lassen, wollte sich darin ertränken, wollte zwei Schritte vortreten, SIE umarmen, sich in der Wärme IHRES Körpers vergraben – aber sie war nicht mehr die, die sie damals war, und SIE war definitiv nie diejenige gewesen, die SIE hier zu sein vorgaukelte.

„Hallo, Monika.“

Schweigen.

Jeder normale Mensch wäre irgendwann dem Druck dieses Schweigens erlegen, wäre gescheitert gegen die ganzen, während eines langen Konzernlebens einstudierten Tricks zu Verhandlung und Herauslockung von Information, aber SIE war kein Mensch, egal, wie sehr sich Nakaira mit jeder Faser ihrer Seele wünschte, dass SIE sie, dass SIE Monika wäre.

Und eben gerade weil das alles so war, hatte es keinerlei Sinn zu warten, bis SIE etwas sagen würde. Also sagte sie:

„Schön, dass du da bist.“

Angesichts der Begleitumstände war dies eine geradezu metaphysische Aussage: War SIE wirklich „da“, hier, in der Oase, einer virtuellen Fieberfantasie? Wann immer Nakaira mit IHR sprach, ging sie sämtliche Protokolle der Oase durch, nur um festzustellen, dass sie definitiv immer alleine war (ich bin … allein).

Bei den ersten Begegnungen hatte sie sogar die Admins sämtlicher DeMeKo-Konzernrealitäten der Metropolis-Arkologie die Datentransfers mit dem feinstmöglich denkbaren Kamm durchgehen lassen, hatte, nachdem nichts gefunden worden war, gemutmaßt, dass der Konzern selbst jene Figur kontrollierte, um Nakaira zu kontrollieren, hatte Runnerteams und über Monate sondierte Top-Decker rekrutiert, um dem Mysterium dieses „Glitches“ in der Matrix auf die Spur zu kommen, ohne Ergebnis.

SIE hatte sie täuschen, in ihre Oase und in sie selbst eindringen können, langsam und verborgen und weich und feucht und schmeichelnd, lange vor dem Netzgewitter, lange vor Befreiung der schrecklichen Kabelmatrix-Entität, und auf Basis aller Erkenntnisse, die die besten Matrixtheoretiker, die sich für Geld kaufen ließen (jeder war käuflich), offerieren konnten, blieb am Ende nur ein Schluss:

SIE, Monika, war keine Invasion eines fremden Datenorganismus.

SIE, Monika, war nur eine Projektion ihres, Nakairas, eigenen Verstandes. Eine adaptive Realitätsanpassung auf subliminale Signale. Ein in der Grundprogrammierung des psychoreaktiven Oase-Codes verborgener Faktor.

SIE … war Nakaira. Ihr … Wahnsinn.

Tintenschwarze Muttermilch.

„Du hast dich entschieden?“

Noch immer kein Blick zurück zu ihr. Noch immer kein Anblick des so endlos vertrauten, immer vermissten Gesichtes. Psychotricks, natürlich, und ins Schwarze treffend, natürlich, denn immerhin war SIE eine Fabrikation von Nakairas eigenem Selbst.

„Ja. Das habe ich.“

Schweigen.

Endlos.

Einmal mehr.

„Aber ich zweifle noch immer.“

Schweigen. Kreise im schwarzen Wasser.

„Es sterben Menschen. Es werden noch Tausende sterben, bis all das vorbei ist.“

Schweigen.

Und Nakairas innerer Wall brach, die Worte strömten heraus. Wie es unvermeidbar war.

„Am Ende werden vermutlich alle sterben. Die Disianer und ihre Diener wollen die ganze Welt verzehren, verschlingen … sie werden nichts zurücklassen.“

Und kleinlaut, nur auf den Verdacht hin, dass sie doch mit APEX sprach, fügte sie hinzu, während sich ihr Avatar in das grotesk dickbusige, riesenäugige Teenie-Girl verwandelte, das sie vor oh so vielen Jahrzehnten hinter sich gelassen hatte, klein und unsicher und verzweifelt um Gefallen bemüht, egal, wie schlau sie sich damals vorkam:

„Ohne Leben gibt es auch keinen Status F, Apex.“

Nun drehte SIE sich um. Das gleiche vertraute Gesicht. Dieselbe Frisur, die – abgesehen von der pinken Strähne – Nakaira selbst schon seit vielen Jahren trug, blickte sie an, blickte in sie, drang in sie, erdrückte sie mit einer Gewalt, wie es nur ihre ureigenensten, inneren Dämonen konnten.

„Und kein Status F im bequemen Leben, Lycia.“

SIE erhob sich, wandte sich ab vom schwarzen Wasser, trat auf Nakaira zu, bis SIE (zu dicht! viel zu dicht!!) vor ihr stand.

„Wir stehen näher am Zusammenbruch von Konzernherrschaft und Einheit als je zuvor, Liebes. Und nicht nur in Berlin.“

IHRE Hand streichelte ihren Nacken, liebkoste ihr Haar.

„Berlin war von jeher die Stadt mit dem größten Willen, sich zu widersetzen. Das Unkraut Deutschlands. Stein gewordenes Versagen. Der ewige Rebell. Dreck in den Straßen, unfähig zur Verwaltung, unwillens, sich anzupassen – und doch: Leute wie Pflügler und Özgün und selbst Jandorf und Sigorski und Wojenko und selbst der wunderbare Zöller, sie alle haben es geschafft, eine Einheit zu schaffen, Frieden zu schaffen, Zu-Frieden-heit zu schaffen – einige aus den besten Absichten, doch viele, weil dies den Sieg der Konzerne garantieren würde.“

Über ihren Köpfen ballten sich die Wolken zusammen, der Mond verschwand.

„Meine Projektionen zeigen deutlich: Noch fünf bis zehn Jahre, dann wird ein Bezirk nach dem anderen ‚normal‘, einige sogar zu Konzernbesitz. Die Akbaba arbeiten beständig daran. Der ‚Bevölkerungsaustausch‘ ist real, doch ganz anders, als die Berliner es sehen. Die Dynamiken des Kapitals werden die Alternativen vom einen zum anderen Bezirk treiben, bis sie sich in wenigen, beherrschbaren Bezahlbare-Mieten-Gettos sammeln, wie überall sonst auch. Spandau wird der erste Bezirk sein, der ‚heim ins Reich‘ kommt, das weißt du ebenso wie ich.“

IHR Kopf senkte sich leicht, sodass SIE Nakaira düster von unten herauf anblickte:

„Die Frage ist nur: Wird dieser Wandel schleichend geschehen, im Herzschlag eines Drachen, oder in der Lebenszeit eines Menschen, mit Blut und Verrat und Gewalt und Willkür und Gift und Monstern und Lagern, sodass den Opfern dieses Wandels – denn den Wandel wird es so oder so geben – keine Wahl bleibt, als aufzubegehren?“

In Nakairas Eingeweiden bildete sich ein kalter Klumpen, als sie zu ahnen begann, wer Fletscher getötet hatte.

„Also müssen sie alle sterben, Monika? Die Friedensbringer, die Diplomaten, die Verhandler? Morek? Safiya?“ Sie schluckte. „Ich?“

SIE warf ihren Kopf so heftig in den Nacken und lachte so laut, dass IHR Lachen über den See aus tintenschwarzer Muttermilch hallte:

Du, Herzliebchen?“

Nakaira wurde blass.

Du hast versucht, die Anarchos zu warnen. Hast ihnen ihre Hybris aufgezeigt, ihre Fehler – aber ‚versöhnlich‘, Schatz, ‚versöhnlich‘ warst du nie.“

SIE kam ihr noch näher, zog Nakaira am Genick näher zu sich, während diese verzweifelt versuchte, sich dagegen zu stemmen, bis nur noch ein Finger ihre Lippen von IHREN Lippen trennte.

Du bist die Stimme der Niedertracht. Das Zündholz, das die Wut entfacht. Die Spalterin. Und deshalb wirst du leben. Folge deinem kleinen Plan, herauszufinden, wer in deinem Konzern den Disianern dient, es schert mich nicht.“

Plötzlich war SIE weg, und Nakairas virtuelles Selbst machte reflexartig einen taumelnden Schritt dem Ufer entgegen, wo SIE gerade eben noch gewesen war.

„Zwei Dinge in dieser Welt weiß ich, Liebes …“

Die Stimme begann, sich aufzulösen, wurde zum Echo.

„Die Drachen werden nicht zulassen, dass diese Welt, ihr Hort, untergeht …“

Nur noch ein Flüstern im Nebel.

„… aber der Status F wird ihr Untergang sein.“

WICHTIGER RETCON-HINWEIS

Aufgrund der zwischenzeitlich eingeführten, globalen Terrorwelle der „Woche des Todes“ mussten leider folgende Nova- und Megapulse zurückgezogen und auch von shadowrunberlin.de gelöscht werden:

– Megapuls Zoom – 05.02.2083 („Pridepuls“)
– Megapuls Zoom – 04.02.2083

– Novapuls – 03.02.2083
– Novapuls – 02.02.2083
– Novapuls – 20.01.2083
– Megapuls – 09.12.2082
– Novapuls – 30.11.2082

Die Pulse werden an die Ereignisse während der Woche des Todes angepasst und in kommenden Monaten entsprechend der geänderten globalen Shadowrun-Zeitprogression Puls für Puls erneut veröffentlicht. 

Weitere Informationen zur Woche des Todes in der ADL und in aller Welt sowie zu den Hintergründen der Terrorwelle findest du im kommenden Quellenband „Fürchte das Dunkel“ (vorr. Mai/Juni 2024). Drei Abenteuer zur Woche des Todes und ihrer Folgen in der ADL erwarten dich und deine Gruppe im Abenteuerband „Domino-Effekte“, der zeitgleich zu „Fürchte das Dunkel“ erscheinen wird.

Was bedeutet „geänderte globale Shadowrun-Zeitprogression“?

HINWEIS: Zu diesem Thema gibt es auch einen Extra-Artikel HIER:
https://shadowrunberlin.wordpress.com/2022/08/11/die-neue-shadowrun-zeitrechnung/

In der Fünften Edition von Shadowrun gab es eine feste Umrechnung zwischen Real- und Spielzeitdatum (nämlich: Jetztzeit +62 Jahre). Mit dem Start von SR6 hat Catalyst diese Konvention aufgehoben.

Seitdem hat das Shadowrun-Team bei Pegasus sich, was die zeitliche Platzierung von NOVA- und MEGAPULSEN sowie der deutschen Bücher angeht, „Pi mal Daumen“ an den (zwischenzeitlich sehr wenigen) Datumsangaben in den US-Publikationen orientiert. Mit anderen Worten: „Durchgeschummelt“.

Inzwischen gibt es wieder eine feste „Umrechnungs-Konvention“ seitens Catalyst. Diese besagt, dass bis zum 31.12.2017 die alte Konvention (Jetztzeit +62 Jahre) gilt, und exakt ab 1.1.2018 die zeitliche Progression um die Hälfte verringert wird:

Wenn bei uns ein Tag vergeht, ist in der Sechsten Welt nur ein halber Tag (12 Stunden) vergangen.

Das Problem: Als das deutsche SR-Team diese Info erreichte, waren die mit dem NOVAPULS bereits am 2.2.2083 – während der Rest der Sechsten Welt noch Anfang 2082 war.

Natürlich trat Pegasus und das SR-Team sofort auf die Bremse. Um die Verwirrung nicht zusätzlich zu erhöhen, sortierten wir neue NOVAPULSE nicht „davor“ ein (also an dem Tag, der dem Datum des Echtzeit-Erscheinens entspricht), sondern eben immer am nächsten Ingame-Tag – bis uns die „Weltzeit“ von SR etwa im April 2024 (endlich!) „einholen“ würde.

Beispiel: Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses letzten „alten“ MEGAPULS ZOOM (dem „Pridepuls“) war es in der Realzeit Ende September 2023. Per Umrechnung war es in der Welt von SR entsprechend Mitte November 2082. Der MEGAPULS wurde dennoch auf den 05. Februar 2083 platziert, damit der (offgame) „neuere“ Puls nicht (ingame) vor dem [offgame] „älteren“ Puls stattfindet.

Ja, wir waren auch verwirrt. Immer wieder 😀 Aber in etwa sieben Monaten haben wir das hinter uns – dachten wir!

Was hat es mit der „Woche des Todes“ auf sich?

Wie gesagt: Als wir (das deutsche Shadowrun-Team) merkten, dass wir der restlichen Shadowrun-Welt um gut 1 Jahr voraus waren, haben wir die deutsche Zeitprogression sofort gestoppt bzw. auf +1 Tag pro Nova-/Megapuls gesetzt, damit die globale SR-Zeit uns „einholen“ kann.

Und wir haben GEBETET, dass im Shadowrun-Kanon seitens der US-Vorgabe nichts passieren möge, was all unsere „vorausgeeilten“ Infos obsolet machen würde. Weil – ein fiktives Beispiel – wir z.B. in einem Novapuls von Anfang 2083 sagen, dass ein Treffen wichtiger Konzerner in Ulm stattfindet, obwohl Ulm in der US-Festsetzung bereits im Spätherbst 2082 von einem Kometen getroffen und zerstört wurde. Genau das ist jetzt leider passiert.

Also, nicht das mit Ulm (keine Angst, Ulm ist safe). Aber im US-Quellenband „Scotophobia“ (der bei uns unter dem Namen „Fürchte das Dunkel“ vorr. im Mai/Juni 2024 erscheinen wird) findet zwischen dem 3. und 11. November 2082 eine globale, in dieser Form nie gekannte Terrorwelle statt, die natürlich auch die Allianz Deutscher Länder mit voller Wucht trifft – und die, „komischerweise“, in unseren bereits veröffentlichten Nova- und Megapulsen von November 2082 bis Februar 2083 nirgends erwähnt wird.

Wir haben lange überlegt, ob wir das auffällige „Schweigen“ unserer Pulse zum Thema der Terrorakte, die später als „Week of Death“ („Woche des Todes“) in die Geschichte und den SR-Kanon eingehen werden, irgendwie zurechterklären können.

Schließlich haben wir uns aber dagegen entschieden – nicht zuletzt, da wir „Stand Scotophobia“ (Ende November 2082) zwar wissen, was Anfang November 2082 in der Sechsten Welt (inklusive der ADL) passierte, aber eben noch nicht, wie der Gesamtplot enden wird und welche Rolle verschiedene Konzerne und Personen dabei tatsächlich spielen.

Zu unserem größten Bedauern mussten wir daher alle Novapulse und Megapulse ab dem Novapuls vom 2.11.2082 (dem Zeitpunkt der Bundestagswahl und Wiederwahl von Beloit) RETCONNEN,

„Retconnen“ bedeutet, dass die betreffenden Gratis-Files aus dem Shadowrun-Kanon, der Shadowrun6.de-Website und natürlich auch von shadowrunberlin.de entfernt werden, um dann in kommenden Monaten Puls für Puls erneut veröffentlicht zu werden – korrigiert und erweitert um jene Ereignisse, die sich in der ADL nach der Woche des Todes weiterhin ereignet haben.

Was übrigens die deutschen DATAPULSE und QUELLENBÜCHER betrifft, haben wir noch mal Glück gehabt:

Der 2021 erschienene REVIERBERICHT samt VENDETTA-Kampagnenband ist im September 2082 angesiedelt, mithin VOR der Woche des Todes, und unsere DATAPULSE 2021 sind trotz Platzierung im frühen 2083 so vage formuliert, dass ein Retcon nicht nötig ist.

Auch die Berlinwahl samt Bundestagswahl 2082 kann bleiben, wie sie ist: Beides fand im Oktober 2082 statt – also vor der Woche des Todes. Die amtliche Bekanntgabe des Bundestags-Wahlergebnisses fand sogar am 2.11.2082 statt: Einen einzigen Tag vor Ausbruch der Terrorwelle.

Wo finde ich mehr Infos zur Woche des Todes und dem Dis-Plot?

Die nach aktuellem Veröffentlichungsstand (November 2023) umfassendste Ingame-Infoquelle zu den Disianern sowie der Grauen Zelle ist das Quellenbuch PHANTOME. Mehr Informationen wird es im Band FÜRCHTE DAS DUNKEL geben, der auch über ein großes deutsches Add-on zum Ablauf der Woche des Todes in der ADL enthalten wird. Informationen zur Metaebene Dis selbst findest du im Quellenbuch ASTRALE PFADE.

Möchtest du bzw. deine Gruppe die Vorgeschichte der Disianischen Bedrohung bis zur Woche des Todes spielen, findet ihr in den Kampagnenbänden PARALLELE WIRKLICHKEIT und FLÜSTERNETZE entsprechende Missionen plus Hintergrundinfos (auch der Band 30 NÄCHTE UND 3 TAGE gehört zum Dis-Plot und soll daher genannt sein; im engeren Sinn spielt der Dis-Plot für die Abläufe im Buch aber keine direkte Rolle).

Drei miteinander verknüpfte Missionen, die während und kurz nach der Woche des Todes in der Allianz Deutscher Länder spielen, findet ihr im Abenteuerband DOMINO-EFFEKTE. Dieser wird gleichzeitig zu FÜRCHTE DAS DUNKEL vorr. im Mai/Juni 2024 erscheinen. Weitere Kampagnen-, Abenteuer- und Quellenbände zu Ablauf, Finale und Abschluss des Dis-Plots befinden sich in Vorbereitung.

Fienchen

[Berlin, 09.11.2082, 03:05:09 Uhr]

Im Radio lief „Antiheld“ von Daemonika, und Fienchen passte das singende Zischen des Schleifsteins dem Rhythmus an, summte mit.

Antiheld.

Sie war kein Antiheld. Sie war ein Held. Besser noch: eine Heldin. Eine gottverdammte Walküre, obwohl sie mit der visuellen Darstellung als fettes Weib mit blonden Zöpfen, die in irgendeinem Wagner-Bühnenbild herumstand und sich die Seele aus dem Leib schrie, wenig anfangen konnte (sie war nie in der Oper gewesen und hatte auch nie eine in Trid oder VR „genossen“, nahm aber an, dass Walküren dort so aussehen – jedenfalls, wenn sie nicht von Bugs Bunny dargestellt wurden).

Niemand wusste, was sie war. Am wenigsten sie selbst. Sie war zu klein für eine Riesin, zu „normal“ proportioniert für einen Troll, sie hatte Hörner, aber nur kleine Hauer, war stärker als viele Trollkerle, die das Vierfache an Gewicht auf die Matte brachten – und sie war erfüllt von einer Magie, die sie, wenn sie eine Axt in Händen hielt, erst vollständig machte.

Die Eltern konnte sie nicht fragen – sie hatte keinerlei Erinnerung an sie, an überhaupt nichts, was ihre Kindheit betraf. Sie war einfach „da“. Einfach erwacht, eine Straße in Hamburg hinabgehend, ihre Axt in einem Lederbeutel, die Gewandung der Zeit entsprechend, nicht besonders hungrig, nicht besonders durstig, durchaus nicht orientierungslos, und sie sprach auch nicht in irgendwelchen obskuren ausgestorbenen Dialekten.

Tatsächlich hatte sie nicht mal gemerkt, dass sie keine Erinnerung hatte, bis einer ihrer Co-Runner sie nach einem erfolgreichen Run in ein Gespräch über die jeweilige Vergangenheit und „wo man so herkam“ verwickelt hatte.

Es hatte sie nicht einmal erschreckt.

Fienchen

Sie war eine Urgewalt im Kampf, aber keine Mystikerin. Sie war erfüllt von einer Bestimmung, die sie nie in Zweifel zog (sie verstand auch nicht, warum sich andere so sehr damit beschäftigten, bei ihr und bei sich selbst). Sie trank und rauchte und schiss und putzte sich ab, sie fluchte wie eine Hafennutte, sie mochte Sex und verstand nicht den Aufriss, den andere darum machten, sie war mal verliebt, dann getrennt, dann kam ein Neuer oder eine Neue, sie hasste Geschirrspülen und besonders Staubwischen, sie nahm Aufträge an und lieferte, und längst nicht alle Jobs waren glorreich oder ehrenvoll.

Irgendwann – die Jahre vergingen, ihr Körper veränderte sich kaum, ihre Bekanntheit nahm zu, sie ging auf Urlaub nach Berlin und blieb – konnte sie sich ihre Jobs aussuchen, bis es gar keine „Jobs“ mehr waren, sondern Dinge, die sie tat, weil sie einer Gemeinschaft, einem Kiez, Lichtenberg, Berlin, „der Sache“ nutzten, und Berlin sorgte sich im Gegenzug um sie, kleidete und nährte sie.

Sie zahlte keine Miete in der kleinen Hausgemeinschaft, in der sie wohnte. Sie bezahlte nichts für Essen und Trinken in den Pinten, in die sie ging, und wann immer sie es brauchte, standen Tüten mit gespendeten Lebensmitteln vor ihrer Tür.

Sogar Geschirr und Wohnung putzten sich selbst.

Im Gegenzug half sie, wo sie konnte. Und sie konnte viel helfen. Politisch in der Lichtenberger Versammlung und der Livegen, anfangs zudem, indem sie so lange Schläger und Presser von Verbrechensgruppen und Konzernen auf die Fresse gab, bis einfach niemand mehr jemanden schickte.

Ihre Präsenz war genug.

Sie hatte viele Freunde, war bestens integriert in Nachbarschaft und Bezirk, wurde auf der Straße gegrüßt – sie war auch wirklich schwer zu übersehen – und dennoch: Irgendwie spürte sie, dass es zwischen ihr und „den anderen“ eine unsichtbare Kluft gab.

Wenn man nicht genau wusste, was man war, aber man fest spürte, dass man etwas war, war die Frage nach der eigenen Identität letztlich egal.

Sie war Fianna. Fiene. Fienchen.

„Du bist ’ne Alita, weißt du das?“, hatte Umsturz ihr mal im Suff gesagt, bevor er auf ganz andere Arten von Getränken umsteigen musste: „Nur im Kampf, weißte, biste ganz bei dir, ganz voll.“

„Voll, so wie du?“

„Nee, voll ganz. Komplett, meine ich. Alita, weißte, aus dem Manga, wo sie grade ’n Trid draus machen“ – das musste in den frühen 70ern gewesen sein – „die ist so ’n Robo-Girl ohne Erinnerung, aber weißte, gebaut zum Kampf, und nur im Fight versteht sie, was sie ist.“

„Soll das heißen, ich bin ein Robo-Girl? Da kann ich dir gern das Gegenteil beweisen, Absturz.“

„Ey, Umsturz, okay? Aber stimmt schon, heute Absturz-Modus, aktiviert! Aber hey nee, lass mal. Das mit dem Badabumm.“

„Rassist oder was?“

„Nee.“

„Was dann? Haste Angst, ich zerquetsch dich? Oder dass dein Würstchen zu klein für ein großes Mädchen wie mich ist? Dass es sich aus Angst nach innen stülpt? Dass dir zu früh einer abgeht? Dass ich mich unsterblich in dich verliebe, weil du so very wonderful bist? Dass es unsere Geschäftsbeziehung belastet? Dass ich dich nach dem Akt auffresse?“

„Ja.“

„Was davon?“

„Alles davon.“

Fienchen im Trid

Und das war das. Sie hatte sich danach Alita im Trideoplex angesehen, was eine dumme Scheiße. Alles für ’nen dummen Jungen aufgeben, klar. Und der Twist mit Desty Nova (Grundgütiger) war auch absehbar. Aber ihr gefielen sowieso die wenigstens Filme. Außer Tank Girl. Und die Splatterversion von Mulan, die Sol Media mal gemacht hatte. Ein bisschen.

Fiktives lag ihr einfach nicht. Jeder Abend im Sechs-Tief war interessanter als jede Schnulze – und hatte meist sogar bessere Dialoge.

Echtheit war ihr Ding. Es wäre unerträglich für sie, wenn am Ende herauskäme, dass sie selbst nur irgend so ein doofer Charakter in einer zusammengestümperten Story war. „Die Welt ist eine Matrix-Simulation“ und all das.

Sie begutachtete die Klinge im Widerschein der Kerzen und ihrer Arbeitslampe und nickte.

Scharf und nutzlos. Wie sie selbst.

Als die Feinde letzten Dienstag beinahe zeitgleich an verschiedenen Orten der Welt – und Berlins – losschlugen, war sie nicht da. Sie war an keinem jener Orte, an denen schallgedämpfte Waffen zischten, Raketen einschlugen oder diese verdammten Horrorviecher auftauchten, und keiner hatte ein Killerkommando direkt zu ihr geschickt.

Sie hatte irgendwann im Lauf der Woche gescherzt, dass der Feind zu viel Angst vor ihr habe, aber gottlob hatte es im Lärmen der Versammlung keiner gehört (oder jene, die es gehört hatten, waren zu höflich, um sie auszulachen).

Seitdem hielt sie sich bereit.

Kein Trinken. Kein Kiffen. Nicht mal schweres Essen. Askese. Meditation. Ewige Wiederholung von Kampfbewegungen. Gewichte pumpen, bis ihre Haut fließend in Schweiß überging. Schärfen der Axt, immer wieder. Sogar Seelsorge bei den paar Hexen und anderen Seelsorgern, auf deren Meinung sie etwas gab.

Sie war sogar bei Alhazred im Goldenen Apfel gewesen, hatte ihn gefragt, warum eigentlich er, der ja nun auch ziemlich eng mit der neoanarchistischen Szene verwoben war, nicht angegriffen wurde.

„Nun, weil ich natürlich auf Seiten der Disianer stehe.“ Und ehe sie aufspringen und ihm seinen grinsenden Schädel vom Körper trennen konnte: „Und auf deiner und jedermanns und keiner Seite ebenso.“

„Das kannst du nicht ernst meinen. Nicht, wenn es um das Ende der Welt geht. Ohne Welt kein Streit, keine Eris.“

„Eris braucht uns nicht. Wenn die Zwietracht auf dieser Welt erlischt, bleiben mehr als genug Metaebenen übrig, die ihrer huldigen.“ Es blitzte listig in seinen Augen: „Wer weiß? Vielleicht streiten sich gerade jetzt die Disianer schon mehr als wir. Vielleicht wegen mir.“

Sie wusste, dass die Selbstverliebtheit des Drakes keine Grenzen kannte und er sich wesentlich wichtiger nahm als vermutlich sogar sein Herr, welcher Drache auch immer das sein mochte.

Ein anderer Drachendiener dachte völlig anders über das nahende Ende:

„Was auch immer du für Unterstützung gegen diese Dis-Pridurki brauchst, lass es mich wissen“, hatte die Drakova gesagt, als Fienchen sie bei einer als Party getarnten Besprechung im Schlosshotel Krasnaya Zvesda traf. Die Begegnung war nur kurz, aber die Vehemenz von Nadjeskas Reaktion hatte Fiene durchaus überrascht. Fast hatte sie gemeint, dass die Augen der Drakova für einen Moment zu Drachenaugen wurden …

Das Fiepen ihres Kommlinks riss Fianna aus ihren Gedanken. Sie griff das mit Punk- und Hello-Puppy-Stickern beklebte Plastikteil und warf den Call auf ein Stück an die Wand gepinnte Videofolie, das ihr als Computermonitor, Fernseher und Notizzettel diente.

Kein Bild, unbekannte Nummer, Stimmverzerrer, aber die Begrüßungsformel identifizierte den Anrufer als Snow-WT aus Hamburg:

„Dem Niddhög zum Gruße, Kleines. Dein Lieblingsschmidt ist dran.“

„Kak dela, Makkala? Schön, dass es dich noch gibt. Was gibt’s?“

„Schön, dich zu hören. Hatte befürchtet, du hättest dich schon aufgeraucht beim Versuch, irgendeinen Schwachkopf zu retten.“ Fianna schluckte. „Aber das lässt sich nachholen: Hier geht grad alles zum Teufel, deshalb schick ich dir ein Paket plus Begleitung für den Pastor.“

Snow-WT musste nicht mal fragen, ob Fienchen den Job annehmen würde, denn im Grunde war es ja kein Job. Es war etwas, das getan werden musste, also würde sie es tun.

Die Domino-Steine fielen. Alles lief nach seinem vorgezeichneten Plan.

Das Ende war unausweichlich.

Assel / .asl

[Berlin-Reinickendorf, 08.11.2082, 10:20:23 Uhr]

Zu seinem Erstaunen existierte der Asselkeller noch, als er den abgeschotteten, gepanzerten, klimakontrollierten Schlafsarg mit eigener Lebenserhaltung im Keller seiner Runnerkneipe in Reinickendorf verließ.

Wie so oft stand er verloren zwischen den Spuren der vergangenen Nacht, die Luft schwer von kaltem Rauch, der Boden klebrig unter seinen Füßen, all die schönen AR-Feeds, Videofolien und Leuchtelemente ausgeschaltet bis auf eine trübe Bodenleiste, die gerade genug Licht erzeugte, dass seine Cyberaugen die Gesamtszenerie in sich aufnehmen konnten.

Er wollte nicht gehen.

Es hatte im Laufe der Jahre mehr als genug Anlässe gegeben, einfach zu verschwinden: Der Status F selbst, der Sturm der Konzerne auf Berlin, Operation Just Cause, die von den meisten unbeachteten Massaker in Reinickendorf nach Errichtung des „Friedens“ in Berlin, der allzu vorhersehbare „Verrat“ der Reinickendorfer Abgeordneten Sofia Nordin, dazwischen der Krieg der Vory gegen sich selbst und jeden, den sie verdächtigten, sich die Gargari-Millionen geschnappt zu haben oder sich jetzt einen Teil ihres Biz aneignen zu wollen … was war jetzt also schon groß anders als früher?

Asseln waren hart zu killen.

Er schlich durch das Chaos einer ganz normalen Nacht im Asselkeller. Griff sich den Stummel einer Hasch-Zigarette, in der noch gut drei Züge drin sein mochten – zu heiß, nicht schmackhaft, vermutlich ohne Kick, denn das gute Zeug wird weiter vorne verbaut –, und begann, Dosen und Flaschen einzusammeln, die Nase rümpfend, wenn er eine allzu volle fand – Verschwendung! –, deren Inhalt er dann in sich selbst entsorgte.

Am Tresen angekommen, wo er zwei Arme voll Leergut abstellte und auf einen Barhocker kletterte, um Pause zu machen, fiel sein Blick auf sein Antlitz im Spiegel hinter der Bar.

Müde sah er aus. Das war nichts Neues. Aber er sah auch gehetzt aus, ausgezehrt – jemand, der, obwohl er kaum körperlich herausragend aktiv war, einfach „durch“ war.

Vor fünf (sechs?) Tagen trafen ihn die Nachrichten von den ersten Opfern, den ersten Primärzielen der Disianer-Verschwörung – und egal, wie froh und erleichtert Assel war, noch immer zu leben: In einer sehr, sehr düsteren Ecke seines Selbst war er persönlich beleidigt, dass ihm selbst kein Killer-Kommando oder einer dieser lebendigen Albträume namens „Chimären“ auf die Pelle gehetzt worden war.

Bisher.

Einer spontanen Eingebung folgend, ging er hinter die Theke, bückte sich zum Kühlschrank mit den „besonderen Flaschen“ – teilweise seine privaten, teilweise die Flaschen guter Kunden, deren Lieblingsgift in keiner normalen Bar zu kriegen war – und fingerte von ganz hinten eine unscheinbare Schnapsflasche ohne Label hervor.

Mit der Routine vieler Kneipenjahrzehnte zog er mit den Zähnen den Stopfen aus dem Flaschenhals, spuckte ein paar Brösel Wachs und Kunstkorken aus und sog den scharfen Geruch der klaren Flüssigkeit ein.

2032. Fünfzig Jahre her.

Er hatte sich nie dazu aufraffen können, die Flasche zu trinken – nicht einmal in seinen schwärzesten Stunden, nicht auf den Tod eines der viel zu vielen Weggefährten, die er verloren hatte, nicht im Überschwang eines knapp überlebten Runs oder zur Feier eines legendären Datenklaus.

Heute. Es würde heute sein.

Einen letzten Blick durch den Asselkeller werfend, goss er den Inhalt der Flasche auf dem Tresen aus. Einige weitere Flaschen Alkohol achtlos zerschlagend, ging er zügig Richtung Ausgang, zündete sich eine Kippe an und schleuderte das Benzinfeuerzeug achtlos hinter sich.

Er hörte das charakteristische „Wooosch“ von Feuer plus Brandbeschleuniger, ehe die zuschlagende Metalltür hinter ihm alle Geräusche abrupt abriss.

Glassplitter knirschten unter seinen Kampfstiefeln, als er den müllbedeckten Hof überquerte, an seinem Auto vorbei, das er nicht mehr brauchen würde.

Per Gedankenkommando rief er das Menü seines Cyberdecks auf, das noch immer im Asselkeller lag, und aktivierte eine vor vielen Jahren programmierte Routine.

16,79 Sekunden später verschwand der Nutzer .asl für immer aus der Matrix.

Vielleicht würde er sich „Schabe“ nennen, dachte er lächelnd, während er sein Kommlink zerbrach und ein frisches aus seiner Manteltasche nahm.

Megapuls.11.2082

Spandauer Bürgermeister Fletscher tot mit 64

B1LIVE 04.11.2082

Am gestrigen Abend verstarb der Spandauer Bürgermeister Jurek „Fletscher“ Kowalczyk durch Herzinfarkt. Mitarbeiter seines Büros fanden den betagten Troll in seinem Büro im Rathaus Spandau zwischen mehreren Flaschen alkoholischer Getränke und anderen Drogen. Auf seinem Schreibtisch befand sich die geöffnete Datei eines Entwurfs zu einem offenbar von ihm geplanten Schreiben, in dem er ankündigen wollte, zur nächsten Wahl im Herbst 2083 nicht erneut als Spandauer Bürgermeister antreten zu wollen. Fletscher wurde umgehend ins Krankenhaus Havelhöhe in Neu-Kladow verbracht, das im Bezirk über die besten technischen Möglichkeiten zur Reanimation verfügt. Nach 22 Minuten intensiver Versuche der Wiederbelebung wurde er durch die Ärzte für tot erklärt. Seine Beisetzung wird den Wünschen des Verstorbenen entsprechend auf dem Friedhof „In den Kisseln“ im früheren Spandau – nun Aztech-Schönwalde – stattfinden. Das genaue Datum wird noch bekannt gegeben. Bis zur Bestimmung eines offiziellen Nachfolgers per vorgezogener Neuwahl wird mangels einer Nachfolgebestimmung seitens des Verstorbenen (eine zwar ungewöhnliche, in alternativen Bezirken aber übliche Praxis) Dr. Katrin Lara Wegener (CVP) als Zweitplatzierte der Bezirkswahl 2080 die Geschäfte im Bezirk übernehmen. [MEHR]

> SCHEISSE. Ich hab ihn gestern noch getroffen! Er war ziemlich zu, okay, aber wer kann’s ihm verübeln bei dem Drek mit dem er sich herumschlagen muss?
> Fienchen

> Aah. Die berühmte Person, die ihn zuletzt lebend sah? Sherlock Darkside ermittelt!
> Darkside

> Jetzt mach dich nicht lächerlich.
> Konnopke

> KHARA! Das ist bitter. Hat er irgendwie krank gewirkt? Oder suizidal?
> Aggi

> Fletsch? Im LEBEN nicht! Ja, er war down, weil ihm klar war, dass er bei der nächsten Bezirkswahl die Dreks-Villengebiete verlieren würde, und wollte nach Eiswerder zurück, um Talabani daran zu hindern … Leila zu sein, schätze ich. Ich war nicht seiner Meinung – bin’s immer noch nicht – aber er hatte Pläne und war keinesfalls am Punkt, wo man sich den (Goldenen) Schuss gibt. Und JA, die Newsmeldung löst multiple Alarmglocken bei mir aus!
> Fienchen

> Wie etwa?
> Konnopke

> Also erstens bin ich mir SEHR Sicher, dass Fletscher Anweisungen gegeben hätte, dass er im Falle von in seinem Alter ja nicht soo unwahrscheinlichen Gesundheitsproblemen in die KLINIK EISWERDER zu Dr. Rosinski gewollt hätte – ABER ich bin bereit anzunehmen, dass Fletsch sich wie jeder von uns für unsterblich hielt und eine dies betreffende Erklärung immer aufgeschoben hat, weil „eilt ja nicht“. UND es macht meinem Wissen nach auch „behördlich“ Sinn, ihn ins Krankenhaus Havelhöhe zu schaffen, da dies die am besten ausgestattete Klinik seines Bezirks ist – trotzdem fühlt es sich „falsch“ an, ihn ausgerechnet nach Neu-Kladow zu schaffen – den Teil seines Bezirks, mit dem er am Meisten Trouble hatte. PLUS ich finde es verdächtig, dass in der Kurzmeldung der DeMeKo genau DAS hervorgehoben wurde. Nennt mich paranoid.
> Fienchen

> Nenn mich Verschwörungstheoretiker, wenn du willst, aber FALLS er keine Bestimmungen zu seiner Behandlung im Krisenfall angegeben hat wäre die Wahl der Klinik meiner Ansicht nach die Zuständigkeit des Dritten Bürgermeisters (Takeshi Ozu, Renraku), dem die Sicherheit aller Bezirksabgeordneten obliegt. Und der hätte Fletscher per AV in derselben Zeit gewiss in die Renraku-Top-Klinik des Renrakusan liefern lassen.
> Darkside

> Was willst du sagen? Dass es Ozu egal war, oder dass der Transport nach Kladow aufgrund von (gefälschten?) Anweisungen erfolgte?
> Aggi

> Du bist nichtmal auf Paranoia-Level 1, Kiyoku. Woher WISSEN wir denn überhaupt, dass Fletsch TATSÄCHLICH in der Kladow-Klinik war? Aber einen Schritt zurück: Ozu ist NICHTS egal. Der Typ hat es hinbekommen, Sofia Nordin über Monate von den derbsten High-Profile-Anschlägen zu schützen. Dito bei anderen Bezirksabgeordneten, die ermordet werden sollten – und seien wir ehrlich: JEDER Bezirksabgeordnete und jeder der drei Bürgermeister steht JEDERZEIT auf der Abschussliste von irgendjemandem, und wir reden hier nicht von eifersüchtigen Nachbarn oder so. Wenn Fletscher in seinem Büro noch gelebt hat, hat es „irgendjemand“ hinbekommen, ihn unter Ozus immerwachen Augen wegzuschnappen und (vielleicht) nach Kladow zu verfrachten, wo dann sein Tod festgestellt wurde. Und du kannst deinen süßen Arsch drauf verwetten, dass Ozu den Autopsiebericht mit dem Nanokamm durchgeht, BESONDERS weil Fletsch „nur“ ein Anarcho-BA war.
> Darkside

> Der zweite, wesentlich absurdere Aspekt ist, dass Fletscher angeblich in den Kisseln beigesetzt werden wollte, also in AZTECH-Schönwalde. Und ja, okay, der Friedhof „In den Kisseln“ ist ein schöner, großer Friedhof mit legendär zahmen Eichhörnchen und in den Grenzen des ALTEN Spandaus mit Sicherheit der schönste Friedhof. Aber dass Fletscher – FLETSCHER!!! – in Aztech-Erde beigesetzt werden wollte ist BZDURY!
> Fienchen

> Zumal die Beisetzung in den Kisseln keinen Sinn macht. Die Kisseln sind quasi DER Berliner Friedhof für alle, die sich verbuddeln und von Würmern fressen lassen wollen – ihr wisst schon: So, wie es schon vor der Shedim-Krise eher die Ausnahme war, und seitdem ist das echt selten geworden – ABER Fletscher wurde nach allem, was ich online ergattern konnte, „ganz normal“ verbrannt, und zwar in Havelhöhe, das nach deren offizieller Matrixpräsenz gar kein Krematorium hat. Der Timestamp des „Eingeäschert“-Eintrags legt zudem nahe, dass er mit Überschall nach Kladow gebracht und binnen Sekunden eingeäschert wurde. Wird sich natürlich als Dateifehler rausstellen, klar.
> .krah

> Was willst du sagen?
> Fienchen

> .krah will andeuten, dass Fletscher ein Opfer der aktuellen Terrorwelle ist. Weil NICHTS von dem, was gerade passiert, Sinn macht.
> Darkside

> Bulldrek. Die globale Terrorwelle ist irgendwelcher Scheiß, den Policlubs oder eine der diversen Terrorgruppen abziehen [#phantome] – die Kisseln würden ja wenn, dann auf Aztechnology hindeuten, und das abstrus offenkundig, oder auf die Kladow-Crew, oder auf die Berliner Megakons insgesamt, und die haben ja wohl kaum was mit der weltweiten Terrorserie zu tun. Die Megas operieren so nicht.
> .krah

> Oder zumindest tauchen ihre Schandtaten in den Medien nicht unter dem Begriff „Terror“ auf, stimmt schon.
> Fienchen

> Bei meinen Recherchen zu den Terroranschlägen taucht gelegentlich der Begriff „Graue Zelle“ auf. Schonmal wer von denen gehört?
> .rez

> [#phantome], wie schon gesagt.
> .krah

> Oh du süßer kleiner Klugscheißer.
> .rez

Fletscher

[Berlin-Spandau, 03.11.2082, 21:12:33 Uhr]

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“

Nachdem sie die Datei, die er ihr geschickt hatte, mit offenkundig wachsendem Missfallen in einem viel zu kleinen Display gelesen hatte, warf sie ihr Kommlink wütend auf den Tisch.

„Fletsch, das kannst du nicht machen.“

Die schlanke, weißhaarige Trollin vor ihm blickte ihn mit funkelnden Augen an. Jurek hatte keine Ahnung, ob sie wirklich eine zu klein geratene Riesin war, wie manche meinten, oder eine auffallend normalmenschlich proportionierte Trollin okayer Größe, die irgendwie nicht altern wollte – im Moment war sie wütend, und frustriert, und enttäuscht, und … müde, wie er halt auch.

„Ich kann das nicht nur machen, ich muss das machen“, stellte Fletscher düster fest.

Nur noch sehr entfernt konnte er sich an jene Tage erinnern, in denen er ein heißsporniger Widerstandskämpfer in Polen gewesen war – und auch die Zeit, als er Chef der autonomen Inselfestung Eiswerder war, im ewigen Balancieren zwischen anarchistischen Extremisten und Interessenvertretern der normalen Spandauer Bevölkerung, kam ihm immer ferner vor.

2077 hatten ihn die Spandauer zum neuen Abgeordneten ihres Bezirks gewählt. Anfang 2078 hatte er – immer ein überzeugter Verfechter direkter Bürgerbeteiligung – per Volksentscheid „seinen“ Bezirk in den Status einer Alternativen Bezirks geführt.

Als Politiker im „suspekten“ Berliner System hatte er von der ohnehin schwierigen Führung der Anarcho-Insel Eiswerder natürlich somit zurücktreten müssen. Dass sich die dortigen Autonomen gegen seinen Wunschnachfolger Dr. Rosinski von der Schwarzer-Stern-Klinik Eiswerder und für die weit radikalere Anarchistin und Anführerin der Eisheiligen-Gang ausgesprochen hatten, war seine erste schwere Niederlage. Die Erste von vielen, die danach folgen sollten.

„Das wird Chaos in Spandau geben. Völlige Eskalation. Hast du mit Pflügler darüber gesprochen? Mit Safiya?“ Fienchen griff nach ihrem Bier – einer Trollsize-Literdose „Schwarzer Stern“, von der sie immer einige Exemplare dabeizuhaben schien – und hielt sie an ihre Lippen („kirschrot und schön“, dachte Fletscher), ohne zu trinken. Sie wartete auf seine Antwort.

„Ooh ja. Pflügler, Özgün, Talabani, sogar Zöller, Jandorf, Wojenko und ihre heilige Kladower Hoheit Fatima Al Hashimi – mit Ausnahme der Scheiß-CVP-Schlampe Wegener habe ich mit allen gesprochen, und alle spammen mich mit weisen Worten, Warnungen, süßen Worten und frommen Wünschen zu. Aber es ändert nichts: Zur nächsten Spandauer Bezirkswahl 2083 nicht mehr anzutreten ist der einzig sinnvolle Move.“

Ein Tippen auf den mit Videofolie bezogenen Arbeitstisch seines Büros im Rathaus Spandau rief eine Reihe von Einblendungen auf. Er blinzelte, dachte an einen technischen Fehler, aber sie wurden sofort wieder scharf, zusammen mit dem Rest des Zimmers. Chatverläufe, Artikel, kalt grinsende Fressen geschminkter DeMeKo-Moderatoren, das wütende Gesicht von Leila Talabani, wie sie in die Kamera schrie, die Ergebnisse der just vergangenen Berlin-Wahl im Oktober 2082 – Jurek hätte das Ganze im dreidimensionalen AR-Raum noch wesentlich effektvoller ausbreiten können, wusste aber, dass die dem Äußeren nach junge Trollin im Inneren ein noch größeres Fossil war als er selbst.

Man war auch in der Sechsten Welt tatsächlich so alt, wie man sich fühlte („Fühlen Sie sich zehn Jahre jünger. Mit D-Agophin von Z-IC. Jetzt auch als Zäpfchen!“).

„Noch mal, Fiene: Tatsache ist, dass wir Kladow verlieren werden. Das haben mir Hashimi und Wegener neben ein paar anderen Leuten, die hier die Trümpfe in der Hand haben, mehr als klargemacht. Und ja, hätten die Anarchos Nordin gestifft, sähe das anders aus – aber seit der Wahl vor ein paar Tagen ist sie Bezirksabgeordnete in Tegel, was das Thema vom Gebietsabritt-Verrat auf Jahre heiß in der Hassliste der Fundis oben halten wird.“

Fienchen wollte etwas sagen, aber Fletscher hielt ihr die Stopp-Hand hin.

„Und ja, ich weiß, ich könnte das stoppen, indem ich dies betreffende Abstimmungen blocke und die Kampagne der Kladower und Potsdamer abwürge. Aber das geht gegen alles, woran ich glaube.“

Fletscher

Er seufzte und nahm einen weiteren Schluck Wein, ehe er fortfuhr (Tír Lacrima Pinot Noir Reserva 2041, vermutlich das Geschenk irgendeines Arschlochs, dessen abscheuliches Bauprojekt im Kolk oder sonst wo eh nicht aufzuhalten war und an dessen Geschmack er gerade überraschend echten Gefallen fand). Er lachte freudlos.

„Schon lustig. Ausgerechnet die Jandorf war von all diesen Geldpissern die Erste, die vorschlug, das vielseitig geforderte Volksbegehren von Kladow-Potsdam abzuwürgen.“

Fienchen zog eine Augenbraue hoch und nahm endlich selbst einen tiefen Zug aus ihrer überdimensionierten Bierbüchse. Da Fletscher offenbar in Gedanken war, sagte sie leise: „Na ja, Jandorf war die ADL-Diplomatin, mit der Pflügler und Özgün zusammen den Waffenstillstand und die folgende Berliner Einheit verhandelten. Schätze, nicht mal die hat ein Interesse daran, dass Berlin zur Hölle geht.“

Fletscher lachte. Ein grelles, kurzes, schnaubendes, bereits beim Ansatz von Frustration abgewürgtes Lachen. Er hustete und erschrak so sehr vor sich selbst, dass er nachgoss und das nächste Glas direkt exte.

„Die Sache ist ganz einfach. Unschön, aber einfach: Solange ich hier im Rathaus sitze, driftet Eiswerder immer mehr in die Radikalität ab. Zu Beginn gab es auch dank meiner Fürsprache viele, die bereit waren, Leila eine Chance zu geben. Aber du kennst sie ja – sie hat jede Hand ausgeschlagen, jedem, der auch nur geringste Konzernverbindungen hat, in die Fresse gerotzt – bei Gott, ich hab sie oft beneidet – und es wird immer unwahrscheinlicher, dass Eiswerder auch in Zukunft ignoriert wird.“

Ein weiteres Glas füllte sich und wurde geleert, während Fletscher versuchte, das latente Lallen in seiner Stimme in den Griff zu kriegen. Vermutlich hatte die süße Fiene es eh nicht gehört.

„Drek. Leilana hat immer wieder Geschütze offen gezeigt, die nach offiziellen Abkommen längsdns demontiert und abgeliefert wurden. Selbst das verfiggde PsiAid und Wojenko warn breid, das zu ignorieren, aber nach den Tridbildern zum letzten Tag der Offnen Insl im Somma war jeder Goodwill absolut aufgeraucht. Und wenn ich dazu was sagen wollde – mit Ängelszungn, verdammd –, wah ich der dreggskorrupte Politigga und Anarchoverrädah, als der ich im Grunde seit meiner Wahl zum Spandauer BA diffamiert werde.“

Fletschers Gesicht verdüsterte sich.

„Nein. Leila muss…ss wegg. Ich muss wieder nach Eiswerder. Ich gann in diesem verdammten Radhaus nichts für unsere Sache erreichen, und hinter mir wird alles abgerissen, was ich in zwanzig Jahren in der Stadt aufgebaut habe.“

Fienchen beobachtete ihn sehr aufmerksam, das Gesicht nun nicht mehr wütend, sondern von einer tiefen Trauer und Frustration erfüllt, die er nur zu gut kannte.

„Ich bin hier feddich, Fianna.“

Der Satz war schrecklich in seiner Endgültigkeit.

„Und ich hier auch, Jurek.“

Sie stand auf. Wirkte plötzlich um so viel größer als er, obwohl er sie um gut zwei Köpfe überragte.

„Ich versteh dich ja sogar, irgendwie“, sagte sie. So viel Trauer in ihrem Blick. „Schätze ich.“ Sie nahm ihre Jacke. „Und ja, mag sein, dass du die nächste Wahl nicht gewinnen kannst, wenn du sie nach den bestehenden BERVAG-Betrugsregeln durchziehst. Aber ich verstehe nicht, warum du das tust … führen wir diesen Bullshit in Lichtenberg ja nicht durch … nie verstanden, was deine Aufgabe als BA eines Alternativen Bezirks … sein, dass eine Kampfklärung mit den Eiswerder- und Lynar-Leuten … hörst mir ja eh nicht zu …“

Fletscher nahm noch wahr, dass sein Gegenüber ging. Der Knall der Tür zu seinem Büro ließ ihn noch mal aus der warmen Umarmung des Rausches auftauchen, die viel zu schnell, viel zu heftig gekommen war, als ein paar kleine Gläschen Wein bei einem Troll seiner Größe verursachen konnten, selbst wenn man den Cognac und die paar Biere des Tages dazuzählte – und die paar Joints, die er gehabt hatte, nachdem er die blöden Bürokraten und die unnötigen Termine am Nachmittag ertragen hatte …

Alles war warm. Und freundlich.

Es würde alles okay sein.

Irgendwann.

Und im rechten Licht betrachtet kam Spandau prima ohne ihn zurecht.

„Wer hat mir diese Flasche hervorragenden Weins geschenkt?“, war der letzte Gedanke, den Jurek „Fletscher“ Kowalczyk in dieser Welt hatte.

B1LIVE 04.11.2082

Spandauer Bürgermeister Fletscher tot mit 64

Am gestrigen Abend verstarb der Spandauer Bürgermeister Jurek „Fletscher“ Kowalczyk durch Herzinfarkt. Mitarbeiter seines Büros fanden den betagten Troll in seinem Büro im Rathaus Spandau zwischen mehreren Flaschen alkoholischer Getränke und anderen Drogen. Auf seinem Schreibtisch befand sich die geöffnete Datei eines Entwurfs zu einem offenbar von ihm geplanten Schreiben, in dem er ankündigen wollte, zur nächsten Wahl im Herbst 2083 nicht erneut als Spandauer Bürgermeister antreten zu wollen. Fletscher wurde umgehend ins Krankenhaus Havelhöhe in Neu-Kladow verbracht, das im Bezirk über die besten technischen Möglichkeiten zur Reanimation verfügt. Nach 22 Minuten intensiver Versuche der Wiederbelebung wurde er durch die Ärzte für tot erklärt. Seine Beisetzung wird den Wünschen des Verstorbenen entsprechend auf dem Friedhof „In den Kisseln“ im früheren Spandau – nun Aztech-Schönwalde – stattfinden. Das genaue Datum wird noch bekannt gegeben. Bis zur Bestimmung eines offiziellen Nachfolgers per vorgezogener Neuwahl wird mangels einer Nachfolgebestimmung seitens des Verstorbenen (eine zwar ungewöhnliche, in alternativen Bezirken aber übliche Praxis) Dr. Katrin Lara Wegener (CVP) als Zweitplatzierte der Bezirkswahl 2080 die Geschäfte im Bezirk übernehmen. [MEHR]

Umsturz

[Köln-Deutz, 03.11.2082, 23:05:09 Uhr]

„Ich habe, was du begehrst, Kesil.“

Die Stimme des alten Taliskrämers war wie das Knarzen alter Bäume oder das Ächzen des Seils, mit dem ein Sarg in die Erde gelassen wird. Im Grunde war er kaum zu verstehen, der Akzent schwer und aus tausend Dialekten von Osteuropa bis Nordafrika zusammengewebt.

Herrgott, Umsturz wusste nicht einmal, warum der Mann ihn jetzt „Kesil“ nannte – er hatte sich mehr als einmal mit seinem Online-Handle vorgestellt, unter dem er auch seine Geschäftsanfragen erledigte: Umsturz. Nicht Eversio, nicht Anatropi, nicht Al’iitaha und keinen der anderen unzähligen Namen und Titel, mit denen der Alte und unzählige andere wie er ihn anredeten.

„Es hat mich einiges gekostet, versteht sich. Man fordert nichts von den Grigori, und ihr Erster ist mit dreißig Silberlingen nicht zufriedenzustellen“.

Zur Hölle mit den Blutsaugern: Er hatte keine Zeit für diesen LARP-Unsinn. Er zog einen Credstick aus der Manteltasche und zeigte ihn: „50.000. Wie vereinbart.“

Aus der Finsternis hinter der kleinen Durchreiche am Ende des langen, verkramten und unerträglich muffigen Telesmashops am Ende einer ebenso engen und verkramten Gasse kam Umsturz eine knochige Hand entgegen, dünn bespannt mit Haut, die Fingernägel so lang, dass sie sich krümmten.

Er zog den Stick leicht zurück: „Zuerst die Ware, Frater.“ Umsturz konnte spüren, wie die letzte Wärme aus dem Raum wich, war sich vollends bewusst, sowohl mit der direkten Nennung des „schnöden Mammons“ als auch mit der Verweigerung der Unterwürfigkeit sein Gegenüber schwer beleidigt zu haben. Aus seiner „jungen Sicht“ als Gezeichneter mochte das groteske Gebaren jener gewissen deutschen Vampirszene, zu der er Zugang zu erhalten versuchte, ein blödes Kinderspiel sein – für jene, die es „rein“ geschafft hatten, war es (seufz) „blutiger“ Ernst.

Mochte ja sein, dass ein paar der Infizierten in diesem Club ’nen Drek auf Geld gaben – er, Umsturz, hatte nicht mal eben so 50K, und ehe er sie herausgab, wollte er zur Hölle noch eins die Ware sehen.

Die ausgemergelte Klaue des Taliskrämers verschwand wieder in der Finsternis, kam mit einer Metallschachtel wieder hervor, öffnete sie und zeigte Umsturz den Inhalt: Ein weißes, leicht glimmendes Pulver, wie winzig kleine Sterne, die jemand vom Himmel geschüttelt hatte.

„Essenzia Aliena. 7 Lot reinster Qualität aus dem Ries. Wie bestellt, Kesil.“

7 Lot. Er blickte kurz nach rechts oben, wo ihm die Datenbrille die Umrechnung in nachsintflutliche Einheiten anzeigte. Die Menge war okay.

Er legte den Credstick auf der kleinen Durchreiche ab und wollte schon nach dem Kistchen greifen, als die Hand des Alten ihm drohend Einhalt gebot:

„NICHT SO SCHNELL!“

Er stockte, eine Hand reflexartig Richtung Holster zuckend …

„Du kriegst noch eine Tüte dazu.“

[Vor Vampyr’s Mysterium, Köln-Deutz, 03.11.2082, 23:20:43 Uhr]

Umsturz trat aus der Finsternis der engen Gasse in das grelle Scheinwerferlicht des nahen Parkplatzes vor Vampyr’s Mysterium, dem wohl größten Telesmashop des Landes. Unwillkürlich rümpfte er die Nase und spuckte blutig aus, fühlte die Magie und die Nacht und die Glorie all dessen, was diese Welt darbot, beschmutzt von Konzernlabeln, Scharlatanen, sogar den Werbetafeln für „Reikiletten-jetzt-neu-in-Vampyr’s-Bistro-Sie-finden-uns-hinten-links-in-der-Refugiums-Einrichtungsabteilung“.

Er klappte den Kragen seines Mantels hoch, um sich gegen das gleißende Licht abzuschirmen, und rannte das kurze Stück bis zu jener wiederum dunklen Gasse, in der er seine geliebte Yamaha Rapier abgestellt hatte.

Es war längst nicht mehr seine Erste, aber er kaufte immer dann, wenn es nötig war, eine Neue: immer dasselbe Modell, 2064er Elegance Edition. Leider immer schwerer zu bekommen.

Kurzer Blick auf den Timestamp im oberen Sichtfeld der Smartbrille: 23:21:12 Uhr. Wenn er sich beeilte und die Strecke halbwegs frei war, konnte er in rund vier Stunden in Berlin sein, wo bereits Agenten seiner – DER – Zelle auf die Essenzia warten würden.

Leider war auch durch die MMVV-Infektion kein Magier aus ihm geworden – übrigens ein Unfall, der einem Runner schon mal passieren kann, wenn man sich mit dem falschen Sucker anlegt –, aber soweit er die Sache verstand, bereitete DER FEIND etwas Großes vor, und die Essenzia war eine mögliche Wunderwaffe gegen ihn:

Der Theorie der Particula Aliena nach stammten die enormen magischen Verwerfungen im Nördlinger Ries daher, dass mit dem Meteor, der vor unzähligen Jahren dort eingeschlagen war, Partikel einer fremden, ja, feindlichen Manasphäre eingeschleppt worden waren. Die Wirkung jener Partikel war so mächtig, dass sie selbst gegen die viel größere Gaiasphäre der Erde bestehen konnte und diese sogar beständig beschädigte.

Wie würde also wohl eine bereits geschwächte, sterbende Manasphäre auf die zur Essenzia gereinigten Partikel reagieren? Sagen wir, die Ebene von Dis? Oder, um ein praktischeres Beispiel für ein paar „Tests“ zu wählen: Ein Disianer in Menschengestalt? Eine durch die Dis-Sphäre geschaffene Chimäre? Zum Beispiel durch eine entsprechend beschichtete Klinge oder Kugel? Oder Staub in einer Granate?

„Ey, Blutsturz.“

Den Motorradhelm bereits in Händen, drehte er sich um: „Zum letzten Mal: Das war damals nur ein Wi…“ – er stutzte. Abgelenkt von seinen eigenen Gedanken, hatte er gedacht, die Stimme zu kennen, aber hinter ihm stand kein flüchtiger Bekannter, kein Fan oder Ex-Kollege, sondern drei Typen in grauen Mänteln, mit schweren, grauen Panzerhandschuhen, grauen Kapuzen, das Gesicht hinter grauen Masken verborgen, drei hölzerne Stöcke, nein, Speere in der Hand und – was eindeutig das Wichtigste war – sie waren Vampire, wie er durch das fahl zehrende Glimmen ihrer Auren erkannte.

Sie standen da. Er stand da. Legte den Helm auf dem Motorradsitz ab, um die kleine Plastiktüte mit dem Kistchen zu verbergen.

„Was sollt ihr denn vorstellen? Die dreifaltige Einfältigkeit? Vader, Hohn und Himbeergeist?“

Die drei sahen sich an, ehe ihr Anführer – jedenfalls nahm Umsturz das an, denn es war derselbe, der ihn angesprochen hatte – sich räusperte und sagte:

„Wir sind dein Ende.“

Er sah sie weiterhin an, während er eine Kippe aus der Tasche fischte und anzündete.

Vampire waren Einfaltspinsel. Obwohl: Das war nicht ganz fair. Sie waren Raubtiere, und als solche perfekt auf ein bestimmtes Szenario angepasst: Dass sie ein Opfer auswählten und sich dieses verdammt noch mal wie ein Opfer verhielt. Renn vor einem Wolf davon, und er hetzt dich und tötet dich. Lauf ihm schreiend entgegen, und er bleibt mindestens stehen und macht dieses unsagbar dämliche „Wazefak“-Gesicht, das die drei vor ihm unter ihren Masken vermutlich auch gerade machten.

Dass er selbst nicht irgendwer war, sondern ein wohlbekannter Name in den Schatten, dessen Kräfte mit einiger Sicherheit überschätzt wurden, half ihm zusätzlich.

Über ihre Auren zogen Schlieren der Verwirrung, sogar der Angst. Jeder hoffte, der andere würde den ersten Angriff starten, damit man sich diesem anschließen konnte. Keiner richtete bisher den Speer auf ihn, und er hoffte, dass die drei – so als Vampire, die ebenso wie er gegen Holz schwerstens allergisch waren – nicht unbedingt die besten Speerkämpfer waren.

Er hatte sich unter Kontrolle – wusste, dass genau das Fehlen von Angst in seiner Aura das Einzige war, das ihn aktuell am Leben erhielt.

„Komisch. Ich hatte mir mein Ende irgendwie epischer vorgestellt. ’Ne schöne Interkontinentalrakete oder ein Thor-Shot, wenigstens ’ne Brandgranate oder ein paar Scharfschützentreffer mit Holzspitzgeschossen“.

Atmen. Rauch rein, Rauch raus. Zentrieren. Ruhig bleiben.

„Aber da ihr es nicht eilig zu haben scheint: Warum? Warum ich? … Vergesst die Frage. Warum jetzt? Warum ihr? Habt ihr die kürzesten Hölzchen gezogen?“, fragte er, während er mit der Kippe auf die Speere deutete.

„Schweig, Geächteter. Du bist ordentlich verurteilt. Vom Hohen Tribunal der Judaskinder. Vor dem blutigen Thron des …“

„Spart’s euch. Ich dachte, die Antwort wäre interessant. Aber ich habe weder Beef mit den Aeterna noch den Moroi, und was Renatus treibt, ist mir egal. Ich bin neutral. Aber das heißt nicht, dass hier jeder mit mir machen kann, was er will. Ich habe Runs erledigt für ein paar große Nummern bei euch, und wenn Bella oder Tenjak glaubt, mich umlegen zu können, um ihre Schulden loszuwerden, dann …“

„Kannst du mal deine Upirfresse halten, Blutsturz?“

Der Typ links war es, dessen Aura in hasserfülltem Rot entflammt war. Exakt bei der Nennung von Tenjaks Namen. Treffer. Nicht gut. Er hatte gehofft, das hier sei irgendein schwachsinniger Revierkampf unter Vampiren, speziell jenen, die versuchten, die „Trostlosigkeit der Ewigkeit“ (kotz würg Schmalz Brechreiz) mit mehr als nur Jagen zuzubringen, eine „Gesellschaft der Kinder der Nacht“ aufzubauen und was einem halt sonst so in Kitschromanen und Trideoschund eingeimpft wurde.

Tenjak war ein ganz anderer Fall: Zu ihm gab es eine Akte bei der Grauen Zelle und einen Verdacht, der sich gerade bestätigt hatte.

„Wir sind nicht zum Spaß hier“, fuhr der Aufgebrachte fort, während sich in der Aura des Anführers Wellen der Erleichterung breit machten: „Du hast Mist gebaut, und den Ahnen reicht’s. Du bist Asche, und wir sind hier, um dir ein würdiges Ende zu bereiten. Andernfalls wird die Blutjagd auf dich und alle ausgerufen, die dir etwas bedeuten, HÖRST DU? Freunde, Bekannte, Connections, Partner, Ex-Kollegen, deine verdammte Familie, von der du dich seit deiner Wandlung so sorgsam fernhältst. Also klemm deinen Arsch zusammen und verhalte dich EIN MAL nicht wie der Anarcho-Arsch, als der du geboren wurdest, sondern wie das Judaskind, als das dich – Kain weiß, wieso – irgendein Zwiesäuger in die Nacht gekotzt hat.“

Umsturz merkte, wie er und seine Aura aschfahl vor Schreck wurden. Fühlte, wie das lähmende Grauen, wer alles seinetwegen in Todesgefahr geraten würde, wegen seiner Mitgliedschaft in der Zelle, … wegen der 7 Lot Essenzia Aliena, die die beste Gelegenheit sein mochten, die ganze Disianerbrut direkt in die Hölle zu schicken.

Er sah, wie die drei Vampire wieder zu Raubtieren wurden. Weil er zum Opfer geworden war.

Kurz davor, sich aufzugeben, glomm ein Gedanke in ihm: Tenjak würde diesen Idioten nicht verraten haben, worum es ging. Vielleicht, nur vielleicht, wusste er es nicht einmal.

Er überkreuzte die Arme vor der Brust, wie es ihm in einer vergessenen Krypta beigebracht worden war, und verbeugte sich.

„Ich ergebe mich dem Tribunal und euch als Ausführern Seines Willens. Doch habe ich ein Ersuchen: Unter meinem Helm ist eine Tüte, deren Inhalt der Herrin der Fleurs Du Mal gehört. Ich bin durch Eid gebunden, es ihr nach Berlin zu bringen, gemeinsam mit der Botschaft, die mir anvertraut wurde. Wenn einer von euch meinen Eid übernimmt und fortführt, will ich mich euch ergeben. Andernfalls ich euch töten muss, egal, was die Konsequenzen sind.“

Wirbeln von Farben. Flüstern der drei. Der Anführer trat vor:

„Ich übernehme deinen Eid und schwöre bei meiner Ewigkeit, diesen zu erfüllen. Wie lautet die Nachricht für deine Herrin?“

„Zwischen grauen Gräbern sieht man Flammen lodern. Und alle sind so durch und durch entflammt, dass keine Zelle solches Feuer überdauern kann. Alles muss vergehen, darum erklingen solche Klagetöne. Auf immer dein, Kesil.”