Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 01 | Mit den Augen der Katze (2)

KIEV | 2016

Das Anwesen schlummert träge in der späten Nachmittagssonne.

Die Bäume hängen prall mit Äpfeln, die Äste gesenkt unter dem Gewicht ihrer überreichen Frucht. Üppig sind die Bäume mit rotem Laub behangen, und ein unablässiger gleitender Regen aus Blättern wirbelt durch den Garten. Eine Schaukel wiegt sich sanft im Wind, quietscht Liebeslieder in des Garten Stille hinein.

„Nikolai!“ ertönt es fern vom Hause her. Dann nochmal: „Nikolai!“.

Eine Frau um die dreißig, das braune Haar unter einem Kopftuch verborgen, kommt den Kiesweg herab. Der Garten ist von einer großen Hecke umgeben, die das Haus scheinbar in der Zeit gefangenhält. Dem geneigten Zeitreisenden wäre kein Hinweis gegeben, dass es nicht 1820, sondern 2018 ist – bis sich das schmiedeeiserne Gartentor wie von Geisterhand bewegt und eine schwarze Limousine den Weg herangleitet.

Mit tiefem Brummton passiert sie die barocken Engelstatuetten, deren ewigjunges Gesicht geringschätzig auf das gebogene Stahl des Fahrzeuges fällt. Der grau-blaue Himmel gleitet behäbig über die verspiegelten Scheiben des Eindringlings, der sein donnernd-summendes Rollen schließlich verliert. Unter dem Auto wird ein schwarzer Lackschuh sichtbar, dann noch einer.

Aus der offenstehenden Fahrertür klingt dumpf die Stimme eines Nachrichtensprechers.

„Magadan. Über Satellitenverbindung meldete sich das von der Zentralregierung entsandte Forscherteam „Soyus II“ erstmalig zurück. Nachdem im Jahr des Unterganges 2011 alle Kontakte zu den dünner besiedelten Gebieten im Nordosten des Mittelsibirischen Berglandes abgerissen waren, wurde das Projekt mit der Wiederaufnahme des Kontaktes zu den abgeschnittenen Gebieten beauftragt. Die schreckliche Entdeckung nach der Werbung.“

Der Fahrer des Wagens hält inne, schiebt sich die dünne Brille auf der Nase hoch und beäugt den auf dem Amaturenbrett des Wagens plazierten Fernseher, der sich mit sanftem Surren in seine Richtung dreht.

„…versäumen Sie nicht auf CD2 das neueste Medienereignis: Garretys Ermordung in digitalem Re-Make, heute exclusiv aus der Perspektive von Kamera 7.“

Musik, sanfte Geigentöne

„Criterizna: Die professionellen Kammerjäger von morgen gegen das Ungeziefer von vorgestern. Gerade als Landwirt in den abgeschiedenen Regionen der Taiga haben Sie mit ungebetenen Gästen zu kämpfen. Damit es ihnen besser als den Bewohnern von Saskylach und Bulun ergeht, wählen sie sofort 45544-CRITERIZNA-666.“ Ein unheimliches Brüllen, gesampelt mit MG-Feuer. „Criterizna – Eine Entscheidung für Ihr Leben“.

Die Stimme des Nachrichtensprechers über Bildern eines völlig verwüsteten Dorfes im Schnee, offenbar aus einem Helikopter heraus aufgenommen.

„Die Bilder, die Sie hier sehen, vermögen kaum das Ausmaß der Katastrophe zu erfassen. Nach bisherigen Erkenntnissen gelangte das verhängnisvolle VITAS-Virus ausgerechnet über ein aus Jakutsk kommendes Ärzteteam im Herbst 2011 in die idyllische Landschaft. Abgeschnitten von der Außenwelt durch den Bürgerkrieg in der Jakutischen ASSR und die Flüchtlingswelle gen Moskau gerieten die Bewohner in Panik – es sind zahllose Spuren von Kämpfen zu entdecken – Leichen wurden indes weder in Saskylach noch in Tiksi oder Bulun gefunden. Man nimmt an, dass die Bewohner geflüchtet sind, und will nun beginnen, die umliegenden Gebirgsketten nach unterirdisch errichteten Lebensquartieren zu untersuchen. Auch dass die Bewohner sich in die 2003 entdeckten unerforschten Höhlenkomplexe nahe Chonuu zurückgezogen haben, hält man für möglich, da diese auf ein Alter von mindestens 40.000 Jahren geschätzten Komplexe Spuren einer einstigen Nutzung durch Menschen aufwiesen. Weitere Informationen nach der Werb…“ Der Ton reißt ab, als der Mann den Fernseher ausschaltet.

Eine gleichsam schwarze Aktentasche findet ihren gehorsamen Platz an der Seite der Schuhe, unterdessen der sanfte Schauer sacht einschnappender Schlösser durch den Garten rieselt.

Der grauhaarige Mann, der nun, die Aktentasche in der Hand, dem Haus entgegengeht, ist von zarter Statur, ein Kontrast zu seinem entschlossenen Schritt und der Härte seiner dunklen Augen. Seufzend wendet sich die Frau vom Garten ab und eilt ihrem Mann entgegen, dessen Begrüßung flüchtig ihre Wange streift, ehe sie ihren Ruf erneuert:

„Nikolai ! Vater ist da ! Wo steckt der Junge nur wieder…“

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