Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 02 | Flucht aus dem Paradies (3)

HAMBURG | 2053

Fischerfleet, St.Georg. Eine kleine Ansammlung behelfsmäßiger Pontons, zusammengenagelte Bretter auf leeren Fässern, bildet den Anlegeplatz des Russenmarktes. Neben zahllosen Rikschas erspäht Nikolai auch ein altes Hoverkraft sowie einige Meter weiter einen neueren Schubdüsenkatamaran, auf den das Logo von Saeder-Krupp aufgesprüht ist. Eine junge Frau und zwei Männer mittleren Alters in teuren „Straßen“-Anzügen entsteigen dem Katamaran, umgeben von zwei Stiernacken in Leder-Trenchcoats, die Augen hinter verkabelten Sonnenbrillen verborgen. Das Steuerzeichen am Katamaran identifiziert sie als aus Hannover kommend, vermutlich auf Studienreise in Hamburg, auf der Suche nach etwas Zerstreuung.

Der Russenmarkt gilt unter den abenteuerlustigen Jung-Managern als „chic“, weswegen die Sicherheitsmaßnahmen in der letzten Zeit etwas erhöht wurden. Hier, am Rande von St. Georg, mischen sich das Volk der Schatten und das Lichtvolk miteinander. Zuweilen vergißt Tolstoi, der die schattigen Gänge, die verborgenen Nischen, die unterirdischen Lagerräume und geheimen Verstecke kennt, daß es da draußen auch die Welt der Lichter gibt, die ihn vor so langer Zeit ausspie. Nur die Bodyguards der jungen Kons wissen noch von der Gefahr, die um sie herum lauert, sie selbst nehmen ihre Leibwächter nur widerwillig zur Kenntnis.

Über den Pontonsockel betritt Tolstoi den Komplex ehemaliger Speicherhäuser, in dem vor allem Exilrussen Handel betreiben.

Im Inneren der schlecht gelüfteten Speicherhäuser riecht es nach Fisch und Rauch, nach Borschtsch und Tscheburjeki, es duftet nach Plov, der in riesigen Pfannen gebraten wird, und nach Potschiki, nach Rassolnik, Schnitsel und Kÿtljetki aller Art. Und über allem hängt der Geruch von Fett und Wodka und fremden Kräutern.

Tolstoi passiert einen Stand, an dem lebende Hühner feilgeboten werden, er passiert den beinlosen Kriegskrüppel, dessen Augen ihn blind anstarren, er quetscht sich durch die Menge um einen Drehorgelspieler, der russische Volkslieder zum Besten gibt, winkt dem jugoslavischen Rosenverkäufer ab.

Den Übergang zweier Speicherhäuser passiert er über ein altes Stahlgitter hinweg, prüft das Vorhandensein seiner Brieftasche. Der Bodyguard eines anderen Kons beäugt ihn mißtrauisch, sieht seine Auto-Schrotpistole, doch da Tolstoi keine Anstalten macht, sie zu ziehen, reagiert er nicht weiter.

Im Russenmarkt ist jeder auf die eine oder andere Weise bewaffnet. Beim alten Fischmütterlein liegen russische Armeepistolen hinter ihr unter der Sardinenkiste, der Drehorgelspieler nebenan hat eine Kalashnikov unter der abgegriffenen Platte der Orgel, und die beiden Kinder, die an die Passanten Süßigkeiten verkaufen, tragen Butterflies.

In einer düsteren, rauchgeschwängerten Ecke erahnt Tolstoi die massiven Leiber von drei Goten in schweren Fellumhängen und dumpf funkelnden Helmen, schartige Krummschwerter an der Seite. Sie gehören zu „KHANS REITERN“, einer extrem brutalen Gang von vielleicht 10-15 Trollen (je nachdem, wie das letzte Gefecht mit der Mongolen-Gang „DSCHINGIS ERBEN“ ausging. Der größte der drei wirft Tolstoi einen düsteren Blick zu. Reste von Borschtsch hängen in seinem verfilzten Bart und seinem zu Zöpfen geflochtenen Haupthaar, das ein wettergegerbtes Gesicht voller mit Teer ausgegossener Ritualnarben umschließt. Um seine Hörner sind zahllose Ringe geschlagen worden, und seine rechte, messerklauenbewehrte Faust umklammert eine verkürzte Panther, die ihn als Mitglied der Tataren, der direkten Leibgarde des Khan ausweist. Khans Reiter haben eine Basis irgendwo im Sperrgebiet Hohe Schaar, reiten auf monströs wirkenden Kampf-Hovercycles Marke Eigenbau. Seinem Blick begegnend, hält Tolstoi kurz inne und läßt sich auf ein Knie herunter, den Kopf auf der Brust, eine Faust auf dem Herzen. Er ist nicht darauf erpicht, sich mit der Gang anzulegen. Mit kurzem Nicken akzeptiert der Reiter Khans die Ehrerbietung und wendet sich wieder seinen schwer gepanzerten Kameraden zu.

Eine Hure spricht Tolstoi an, er geht stumm an ihr vorbei. Ein Typ mit leuchtender Brille und NeoTech-Kleidung schreit um Aufmerksamkeit, er will original russischen Kwas verkaufen – in Wahrheit heißt er Pirosh und dealt mit gefälschten IDs der untersten Qualität. Gegen die 20 ecu der Skythes-Gang läßt sich Tolstoi in das 4. OG des Speicherhauses hochziehen, der Fahrstuhlmann kennt ihn. Oben wohnen die meisten Händler des Russenmarktes mit ihren Familien – oder doch wenigstens diejenigen, die nicht nachts nach Wildost zurückmüssen. Die Wohnungen der Familien sind mit Notplanen voneinander abgeteilt. Tolstoi passiert ein rostiges Federbett, auf dem ein verdrecktes sechsjähriges Kind sitzt und ihn aus großen, schwarzen Augen anschaut, ein hartes Stück Brot in der Hand. Von irgendwo her schallt der Klang einer Balalaika, ein Tambourine fällt in das traurige Liebeslied ein.

Tolstoi geht eine Halbtreppe abwärts durch einen Vorhang und steht im „Ruka“, dem russischen Schwarzmarkt. Auf sein Eintreten hin wirbeln vier Köpfe herum, Pistolen und SMGs werden gezückt, dann erleichtert wieder weggestellt. Sofort erblickt Tolstoi Sergej, einen der Fixer hier mit ausgedehnten Kontakten zum Klabauterbund. „Kÿwo ja wishu ! Ey, Tolstoi, Brüderchen“, und er fällt Tolstoi um den Hals. Die beiden küssen sich, Floskeln über das Befinden werden ausgetauscht, eine Flasche Wodka geöffnet. „Sag, Drug, was kann ich für dich tun ?“

„Das übliche, denke ich.“ und damit stellt Tolstoi die Aldi-Real-Tüte auf den Tisch.

„Tsts, Tolstoi, Du trinkst ja wie ein Gote.“ und er lacht rauchig und warm, während er einen der anderen Typen heranwinkt, der eine Kiste Wodka trägt. Schnell ist man sich einig: 6 Flaschen Wodka, 6 Stangen Zigaretten, 30 Schuß AP-Magnum und 3 neue Musik-Chips, die Tolstoi aus einem Pappkarton herauskramt. Das Angebot, einen der neuen BTL-Chips auszuprobieren, lehnt er ab. Die schmale Silberpfeife mit „Blue Dust“ nimmt er an. Während man miteinander spricht und verhandelt, kommen einige Bewohner hinzu, ein Pokerspiel beginnt.

Ein schriller Pfiff durchdringt den Raum, wird ertränkt durch schweres MG-Feuer. Stühle und Kisten fliegen beseite, Waffen werden gezogen. Sergej flucht vor sich hin:  „K-tschjortu ! Das ist jetzt die zweite Razzia in dieser Woche, Bullen-Swoletsch*“ Nikolai lädt durch, streift über seine Waffe und erhebt sich langsam.

Reflexe ::::::::::::::::……… bereit.

 

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