Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 03 | Jahre des Blutes (5)

PRIPJETSÜMPFE (POLEN) | 2032

Ein Staccato schmatzender Schritte begleitet die Gestalt in der schwarzen Halbpanzerkleidung der russischen Armee, als sie zum nächsten dürren Baum sprintet. Eine dumpfe Explosion reißt grau-grünes Sumpfgras und eine riesige Welle Brackwasser in die Höhe, die einige Sekunden später über die auf dem Boden liegende Gestalt herabregnet.

Tolstoi reißt sich den völlig dreckverklebten Integralhelm vom Kopf, wirft einen Blick zurück. Zwei Sekunden später, und er wäre tot gewesen. Von seinem etwa 400m entfernten Hoverbike sind nur noch schwarz qualmende Trümmer übrig. Aus der halb versunkenen Schale seines Helmes dringt statisches Rauschen an sein Ohr.

„Tolstoi ? Bist Du okay ?“

Er greift zum Helm, befreit das Mikrophon vom schweren Schlick der Pripjet-Sümpfe. Er schluckt schwer, bringt keinen Ton hervor. Seine Hände zittern.

„Tolstoi ! Mann, melde Dich !“

Durch den Morgennebel dringt entfernt das fahle Licht eines Scheinwerfers. Ein Pfeifen liegt in der Luft.

Der Scheinwerfer erlischt, gefolgt vom Aufheulen der Turbinen des Hoverbikes. Hinter ihm zerfetzt eine weitere Detonation die Stille. Tolstoi drückt sein Gesicht in den Schlamm, zittert unkontrolliert. Seine Lungen ringen um Luft. Die Welt dreht sich um ihn.

Von Angstkrämpfen geschüttelt, greift er in die Brusttasche seiner vor Dreck strotzenden Uniform und zieht einen Airhypo heraus. Er braucht vier Ansätze, bis er die Endorphin-Patrone geladen hat, setzt sich den Hypo an den Hals und feuert 200ml Glücksmacher in seinen Blutstrom.

„Einheit 4 an Mutter. Habe den Kontakt zu Tolstoi verloren. Erbitte Anweisung.“

Das Gemurmel des Coms versinkt im Endorphin-Flash, der sich wie ein Hammer auf Tolstois Gehirn entlädt. Er dreht sich auf die Seite, erbricht klatschend seinen Mageninhalt, bis nur noch gelb-grüne Galle kommt.

Das Geräusch des Hoverbikes entfernt sich. Immer noch mit der Übelkeit kämpfend, versucht er sich auf eine Routineaufgabe zu konzentrieren. Er prüft seine Kalashnikov, puhlt den Schlick aus der Munitionszuführung.

Unvermittelt reißt er den Kopf empor, hört das unverkennbare Geräusch einer weiteren herannahenden Aerofoil. Fluchend springt er auf, sprintet von seinem Standpunkt weg.

Als sie völlig unvermittelt auf Scoutmission, die sie eigentlich hinter die satelittenermittelten Stellungen bringen sollte, unter Flakbeschuß geraten waren, hätte er 1 und 1 zusammenzählen müssen – der Feind hatte die Computerabwehr durchdrungen, hatte falsche Zielerfassungssignale in den taktischen Computer ihrer Einheit eingeschleust. Der taktische Computer ihrer Helme hatte sie zielgerichtet in einen Hinterhalt fahren lassen; nun wurden sie von ihren eigenen Standortpeilungssignalen des Helms verraten. Tontaubenschießen für den Feind – HelmCom anpeilen, Flak ausrichten – Feuer.

Tolstoi hofft, Venka hat das auch erkannt und ihren Helm weggeworfen.

Das Geräusch der Aerofoil wird lauter. Sich mit einem Fuß“abstoßend, hechtet er in ein Wasserloch, an dessen Rand ein ausgebrannter Jeep vor sich hinrostet. Die ganzen Sümpfe sind voller Trümmer des monatelangen Stellungskrieges. Er betet, nicht von einem unter der brauenen Wasseroberfläche ruhendem Stück Wrack aufgeschlitzt zu werden. Die Granate schlägt genau dort ein, wo sein Helm liegt. Fetzen des verkrüppelten Baumes reißen keilförmige Muster in das Wasser um ihn. Er hat Glück: unter Wasser wird er nur von lehmig-schwammigem Grund begrüßt.

Japsend kriecht er ans Ufer – registriert, daß er seine Kalashnikov am Baum gelassen hat. Er blickt sich um – von dem Hoverbike ist keine Spur mehr. Wenn sie ihn nicht schon erwischt haben, müßte Ghandi mit dem Gefechtshoverkraft etwa 2km südöstlich von ihm sein.

Er rollt sich hinter dem Jeep in Deckung, versucht die zerfetzte Leiche auf dem Fahrersitz nicht zu beachten. Krähen haben die Augen aus dem Kopf gebickt, und die Eingeweide des Mannes sind im näheren Umfeld des Jeeps verstreut, sein Brustkorb ein klaffend-leeres Loch.

Tolstoi reißt den Rucksack vom Rücken, öffnet die wasserdichte Abdeckung, holt den MilTEC-IV hervor, ein flaches Kartenlesegerät. Unter Zirpen erscheint die Karte. Da er die Zielerfassung ausgeschaltet hat, erscheint seine Position nicht. Er schätzt, daß er etwa 12km vom umkämpften Ort Novosarko entfernt ist. Er reißtm sein ArmCom empor, um ein Notsignal zum Rückzug abzusetzen, doch das Gerät hat seinen Geist aufgegeben.

Verzweifelt checkt er seine Ausrüstung. Eine schlanke russische Militärpistole Cal. 9mm in seinem Gürtel, 4 Clips zu 12 Schuß plus Abschußbecher für 4 Notsignalraketen. Er schätzt, die Flak findet ihn schneller als seine Kameraden. Seine Finger ertasten das Militärmesser im Stiefel, stellen am Rücken erleichtert das Vorhandensein des MedPaks fest. Die Schachtel mit den Notbatterien für den HelmCom schleudert er ebenso wie das kleine Reperaturset für das Bike in den Sumpf. Die Pistole Marke Gorbatchov in der Hand, robbt er an die Seite des Jeeps, wo er vom Anblick einer aus schwarzer Uniform herausragenden, abgefressenen Wirbelsäule begrüßt wird. Informationen des Briefings rasen durch seinen Kopf – Bilder von Soldaten, die von gegnerischen Höllenhundstaffeln attackiert werden. Seinen Ekel überwindend, kriecht er hinter den abgenagten Kadaver in Deckung, zieht vom Rücken des Kadavers ein Peilfernglas mit integriertem Shotgun-Microphon ab und setzt es an die Augen.

Auf Thermosicht umgeschaltet, erkennt er in 4.500 Metern Entfernung zwei sich parallel zueinander bewegende Hoverpanzer vom Typ „Blitzkrieg“ (Made by EuroCar). Der Computer des Fernglases scrollt Infos über Reichweite, Ausstattung und Feuerkraft des Panzers. Zwillingsflak als Indirektfeuer, 40mm Panzerabwehrkanone plus optional aufgepflanztes Schweres MG mit Kettenzuführung. 4 Mann Besatzung: Pilot, Navigator, Schütze, Maschinist. 20t Gewicht, 130 km/h Spitze Land, 70 km/h Wasser, Sumpf irgendwas dazwischen. Endlich Informationen über die Sensortechnik.

Tolstoi bricht kalter Angstschweiß auf. Bei momentaner Fahrtrichtung und Geschwindigkeit haben die Panzer in 2 Minuten eine Zielpeilung auf ein menschengroßes Warmziel. IHN.

Fluchtartig zieht er sich zurück, rutscht unter die Hinterachse des Jeeps. Seine Gedanken rasen. Noch 00:01:32 bis Zielerfassung. Seine Augen irren umher.

Nahe des Jeeps liegt eine Kiste halbversunken im Dreck. Die Kennummer lesend, schnellt er auf den Kasten zu. Der Kasten ist mit einem Codeschloß gesichert, die Aufschrift: „TAKTISCHES FELDSATELITTENSYSTEM STALIN VON BABA YAGA LIGHT INDUSTRIES“. Für ein Öffnen und Übergehen der Codesicherung bleibt ihm keine Zeit, ein Aufbrechen der mit 2cm Hartstahl gesicherten Kiste scheidet aus. Er versucht sich zu konzentrieren. Die Sicherung des Codeschlosses ist 14stellig.

00:01:07.

In der Luft ist das entfernte Dröhnen der schweren SK-Schubaggregate des Panzers zu hören. Tolstoi rollt zur Leiche auf dem Fahrersitz herüber, sucht nach den Rangabzeichnen. Das Blut und der Verwesungsgeruch versinken im Strudel seiner Angst, er fingert am Rand Loches umher, unter dem einst das Herz und die Lunge des Soldaten saßen. An einem Fetzen Stoff, der am Innenrand der Rippen festgetrocknet ist, kommt das Abzeichen eines Kommuniktationsoffiziers zum Vorschein. In Panik reißt Tolstoi den Leichnahm vom Fahrersitz, übersieht den Sicherheitsgurt. Unter feuchtem Knirschen bricht der Leib an derTaille um, Maden rieseln brockenweise über das von saurem Regen zerfressene Sitzpolster.

00:00:52.

Von Krämpfen des Ekels geschüttelt, wendet sich Tolstoi ab. Er taumelt kurz, als plötzlich und ohne jeden Grund eine taube Ruhe über ihn fällt. Seine Gedanken klären sich, werden messerscharf wie Klingen aus Diamant. Wie in Trance wendet er sich wieder dem Toten zu, sein Blick ruht auf einem funkelnden Stück Metall, das unter seiner Jacke hervorgerutscht ist – seiner Identifikationsmarke. Der aufgeklebte Magnetcodestreifen hat sich in der Feuchtigkeit der Sümpfe weiß-grün verfärbt, doch Tolstoi beachtet es nicht. Messerscharf gräbt sich ihm die ID-Nummer des Gefallenen ins Hirn.

14 Stellen. 0-8-8-4-5-5-0-6-1-3-2-9-3-6

Er läßt den Oberkörper des Leichnahms los, der klatschend im Wasser aufschlägt. Sprintet zur Kiste zurück, gibt die ID-Nummer in das Codeschloß ein. Surrend öffnet sich die Abdeckung, der SAT-Terminal erwacht zum Leben. Perfekt isoliert, greifen metallene Arme nach draußen, entfaltet sich eine etwa 50cm durchmessende Schüssel.

00:00:32

Tolstoi überfliegt die Bedienelemente, programmiert die im Morgenbriefing bekanntgegebene Position des Satelitten IVAN-MIR-12 ein und betet, daß diese nicht auch vom Gegner gefälscht wurde. Dann entrollt er hastig das dünne Glasfaserverbindungskabel, dreht es auf die kühl-metallene Spitze eines Neuro-Cinch-Steckers, den er sanft klickend in seine Schläfenbuchse einführt.

00:00:23

Er stürzt in die Matrix.

Nackt.

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