Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 05 | Von Dämonen und Engeln (12)

HAMBURG – 2044

Das Gefühl von déja-vu läßt Tolstoi erzittern.

Er sitzt in einer heruntergekommenen Bar und leert unter dem mißmutigen Blick des Barkeepers seine Schuhe aus, ein Glas Wodka auf dem Tisch und 4 im Magen, ohne festen Plan, wie er sie bezahlen soll, als eine weibliche Stimme ihn anspricht.

Nadja ?

Er fährt herum, wie von einer Tarantel gestochen, doch hinter ihm steht nicht Nadja.

Das Mädchen ist schön, die Augen von einer Tiefe, als wäre sie gerade aus einem Traum emporgestiegen. Ihre Bewegungen sind sanft, das dunkelbraune Haar in Wogen über ihren Rücken fallend.

„Ist alles okay ? Du siehst fertig aus.“

Er starrt irritiert auf ihre Kleidung, ein wallendes, weißes Kleid, das in krassem Kontrast zum Rest der Kundschaft hier steht. Dennoch macht sie niemand an.

Niemand pfeift.

Niemand johlt.

„Darf ich mich zu Dir setzen ?“

Ohne daß er eine Aufforderung derart gemacht hätte, setzt sie sich und stützt ihr Kinn auf eine Hand, ihre Augen an das Silber seiner Cyberaugen geheftet. Das rauchegschwängerte Innere der Trinkhöhle ruht in angenehmen Zwielicht, einzelne Ecken hin und wieder blitzartig erleuchtet, wenn das aus dem letzten Jahrhundert stammende Lichtsystem auf vereinzelte, lautere Töne aus der schnarrenden Lautsprecherbox reagiert.

Über ihre Gestalt laufen Reflexionen aus rot und grün dieser Lampen, ergänzt von angedeuteten mattroten Schlieren, die durch die verdreckten Butzenglasscheiben hineinstrahlen.

Sie trägt keinen Schmuck – eine Rarität heutzutage – und kein offensichtliches Makeup. Indem sie sich langsam eine Strähne aus ihrem Gesicht streicht, leuchten unter der Dunkelheit ihrer Haare ihre spitzen Ohren hervor, ehe ihre Hand wieder zum Tisch herabsinkt, den sie aber nur mit den Fingerkuppen gerade berührt.

Erst langsam steigt in Tolstoi die Erkenntnis empor, daß er sie angafft und den Mund leicht geöffnet hat, also blinzelt er und – um überhaupt etwas zu sagen – stellt sich vor.

„Ich bin Whitecloud. Hallo.“

Er ist so angenehm berührt vom Klang ihrer Stimme, von ihrer reinen, unverfälschten Schönheit, daß ihm plötzlich sein eigener Anblick gewahr wird. Scham erfüllt ihn, und er senkt den Blick.

„Gesprächig bist Du wohl nicht, was ?“

Er will etwas sagen, aber sein Hals ist trocken, die Stimmbänder vom langen Bad in Hitze und Sand so entzündet, daß er nur ein Krächzen hervorbringt.

„Oh. Verstehe. Gerade aus Teneriffa zurück, wie ?“

Und dann legt sie den Kopf in den Nacken und lacht so klar und silberhell, daß es für einen kurzen Moment völlig still wird in der Bar.

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