Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 04 | Die Brut des Drachen (1)

TIR N’ZAGH | 2035

Das schabende Geräusch des Hufmessers verliert sich im Rauschen der Büsche und Gräser. Weiße Hände umklammern den schwarz-silbernen Huf eines Rappen, dessen riesenhafte Flügel vom Wind der Bergkuppe zerzaust werden.

Zu Füßen des Drakkar liegt ein schwarz-funkelnder Helm, das Visier einem Totenschädel nachempfunden, daneben die gekrümmte Klinge und der Schild des Drakkarim. Das rabenschwarze Haar fällt ihm ins Gesicht, während er den schweren Huf von Erdbrocken und Steinen befreit.

Er inspiziert seine Arbeit, steckt dann das Hufmesser in den Gürtel seiner schwarzen Rüstung zurück. Schwer läßt er sich auf einem Felsen nieder, der Blick ruhend auf der Dunklen Feste, die in großer Ferne zu sehen ist. Er legt sich zurück, ruht auf dem spärlichen Gras, dem flachen Stein, und blickt in den Himmel, über den graue Wolkenfetzen treiben.

Weit unter sich sieht er die Täler ausgebreitet, das weite Land. Ein Junge dort unten könnte hinaufschauen zu den Bergen und Wolken und weiße Rösser sehen und Segel, doch hier, hier oben, ist alles stumpf und grau und schwarz.

Tir N’Zagh – das dunkle Land.

Wer bin ich ? Ich erinnere mich daran, von einer Frau „Nikolai“ gerufen worden zu sein. Sie war sehr zornig. Ich erinnere mich daran, wie mich ein sehr großer Mann „Tolstoi“ nannte. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich, wie ich auf einem Thron sitze, mein Bruder Me’Dojh die Augen voll Zorn… Nein, das war einer der Träume, vermischt im Gesang der Robenträger, der sich über mich legt wann immer ich die Augen schließen will. Ich sehe Feuer höre Feuer atme Feuer und verbrenne, bin tot-und-doch-nicht-tot… untot ?

Ich bin nicht allein in meinem Körper. Nein, nein, nicht das fette Ungeheuer ist hier (welches fette…), nein, aber der dunkle Mann hat mir etwas gegeben, nein, etwas geweckt. Der Bund.

Der … Bund.

Der grazile Elf in der schwarzen Rüstung wendet seinen Blick wieder den Wolken zu. Weißes Land, es tanzen Gestalten dort oben.

„Du hast unser Volk verraten, Nikuriel !“

Hör“ auf, zu mir zu sprechen, Mordrakkan, Deine Geschichten will ich nicht hören.

ERINNERE DICH.

Ich will nicht.

DU MUSST.

Nein !

„Du hast unser Volk verraten, Bruder !“

Ich hatte keine Wahl. Hätte ich sie den Ungestalten ausliefern sollen ?

„Du hast uns an einen Drachen verkauft.“

Er hat uns geschützt in den Jahren der Finsternis. Er hat den Anbeginn der Zeit gesehen. Mein Mentor wie Deiner, Jelziah, hat ihn gerufen.

Du hast es befohlen.“

Aus Dir spricht Zorn, Bruder.

„Warum sollte ich keinen empfinden ? ICH bin der Ältere, das weißt Du. MIR gebürt der Thron.“

Aber Vater hat mich bestimmt.

„Weil Du den Drachen hast.“

Ich habe ihn nicht. Gerufen wohl, besitzen niemals, das weißt Du.

„Dann lebe mit ihm hier oben. Das Land ist sicher genug geworden – ich und die meinigen werden fortgehen von hier. Alle werden sie gehen. Unser Land war weiß, ehe der Drache es berührte. Nun ist alles verdorrt und verdorben.“

Das war nicht des Drachen Werk. Die Drakkazim haben es gesehen, als sie durch das Land flogen. Es war der Ungeheuer Werk.

„Wer regiert dieses Land, Bruder, daß Du den Worten der Drachenreiter mehr glaubst denn dem Deines Bruders. Regierst Du ? Oder Mordrakkan ?“

Ich will mich nicht erinnern.

ES IST DEINE PFLICHT.

Nein, es ist Nikuriels Pflicht. Ich weiß nicht, wer er ist.

DU BIST ES. ABER DIE IMPLANTATE HABEN DAS GEFÄSS SEINER SEELE BESCHMUTZT. VIEL GING VERLOREN. DEIN VATER WAR EIN NARR.

Seine Gedanken kreisen. Er preßt die Augenlider zusammen, legt sich die Hände auf die Ohren, aber die tief-dröhnende Stimme des Drachen und das ferne Echo der Stimmen der Vergangenheit reißt nicht ab.

Wochenlang, monatelang hat er gelegen in Schwärze, die singenden Stimmen alles um ihn herum. Er hat gespürt, wie die Stimmen in ihn eindrangen, sich forschend in seinem Geist umblickten tasteten leckten bis sie eine Saite fanden, die vibrierte im Ton ihrer flüsternden Stimmen.

Er hatte von Nadja geträumt, aber sie sah plötzlich anders aus. Er hatte von einem Vater geträumt, den er nie gesehen hatte. Hatte sich und andere wie ihn in einem Zirkel gesehen, der Nachthimmel durchzuckt von tiefroten Blitzen, wie die Glut eines ausgebrannten Lagerfeuers, aus der schälte sich ein schwarzer Leib mit zwei Schwänzen das Blau der Augen wie Feuer der flog auf sie zu und sie sangen sangen sangen wie jetzt zu schützen das Volk denn das Ende naht und kein Schutz ist da aber es darf nicht untergehen und der Mann mit den weißen Haaren in der schwarzen Robe der Alte Freund Mentor Freund der Kindertage Vertrauter und Lehrer Jelziah der ihm beibrachte zu reiten und Fäden zu weben er hatte sich abgewandt er war wütend…

Ich kann nicht, Mordrak-Khan.

WARUM NICHT ?

Ich… weil… mein Leben, verstehst Du ? Die Geschichten, die Du mir erzählst, vor ihnen wird alles so… klein, bedeutungslos.

ABER DEIN BISHERIGES LEBEN WAR BEDEUTUNGSLOS.

Was ist mit meinen Kameraden, die im Krieg gefallen sind ? Was ist mit meiner Liebe zu Nadja ? Was mit den Sonnenaufgängen, meinen Träumen ? Was ist mit der Doktorarbeit, mit den verlorenen Träumen von Petrushka ?

BEDEUTUNGSLOS. DU WIRST DAS VERSTEHEN, BEGREIFST DU ERST, WIE ALT DEINE SEELE IST. DER BLICK FÜR DAS KLEINE WIRD VERSCHWINDEN – SICHERLICH BEDAUERLICH, ABER UNABWENDBAR. ÖFFNET SICH ERST DER BLICK FÜR DAS GROSSE, DU WIRST ES SEHEN, VERBLASSEN ALL DIESE UNWICHTIGKEITEN, MIT DENEN DIE STERBLICHEN SICH ABMÜHEN.

Nein.

SOLANGE DU DICH WEIGERST, WIRST DU DEN BLICK DER EDLEN NICHT ERHALTEN. DU WIRST NUR IRGENDEIN UNBEDEUTENDER EX-SOLDAT SEIN, DER EINEN KRIEG VERLOR, DER NICHT ZU GEWINNEN WAR – WAS DU HÄTTEST SEHEN KÖNNEN, WENN DU DEN BLICK FÜR DAS GROSSE HÄTTEST.

Ich habe es gewußt – JEDER hat das gewußt.

WARUM HABT IHR DANN GEKÄMPFT ?

Weil es richtig war.

PATHETISCH.

Vielleicht. Aber es war wichtig. Wenn etwas richtig ist, so muß man es tun – auch wenn man am Ende verliert. Das, oder sein Leben in Knechtschaft verbringen.

DAS RUSSISCHE VOLK LEBT IN KNECHTSCHAFT. ES HAT VERLOREN.

Nein. Am Ende hat es gesiegt. Denn es wurde BEsiegt. Es hat sein Land, seinen Traum nicht verschenkt, dem Henker die Klinge gehalten und ihm dankbar in die Augen geschaut. Es hat sich erhoben, und es wurde besiegt. Aber es kann sich noch immer in die Augen schauen, ohne Scham zu empfinden.

BIST DU BEREIT, DAS VOLK DEINER ARROGANZ ZU OPFERN ? BIST DU SO SELBSTSÜCHTIG ? HABEN DIESES MODERNE LEBEN, DIESE IMPLANTATE, DICH SO KORRUMPIERT ? BIST DU SO GEFESSELT AN DEINE TRÄUME, DEINE WÜNSCHE, DEINE SELBSTSUCHT ? KANNST DU SO LEICHT DEINE PFLICHT VERGESSEN ? WIE SIE ?

Wie wer ?

NICHTS.

Du siehst in mir noch immer Nikuriel, nicht wahr ?

DU BIST ES.

Nein. Nikuriel ist tot. Und begraben. Du hast es selbst gesagt.

Als Du mit ihr gesprochen hast.

Du schweigst ?

Ich werde dieses Leben nicht führen, das Du von mir verlangst. Ich bin nicht alt. Ich kann nicht damit leben, daß alles bedeutungslos war, wofür ich gekämpft habe. Wovon ich geträumt habe. Die Menschen und Metamenschen da draußen, sie wissen nichts, nicht wahr ?

Und ich, ich will es auch nicht wissen. Ein Ende der Scharade. Ich denke wohl, daß Deine Absichten edel sind – wie Kathariznas und die der anderen Drakkazim. Aber ihr habt im Alter vergessen, zu leben. Ihr habt vergessen, was den „Sterblichen“ wirklich wichtig ist. Ihr habt den Blick für das Detail verloren, so groß ist eure Perspektive.

GLAUBST DU DAS WIRKLICH ?

Ja, das glaube ich. Ich sehe es Tag für Tag. Habt ihr jemals an MEIN Leben gedacht? Ihr füttert mich mit Träumen, jagt mir Gedanken hinterher, keine Nacht bin ich allein, vergittert alle Fenster, eure Welt ein Bündel aus Lügen, groß euer Blick, aber klein euer Herz. Ihr wollt diesen Kampf, nicht wahr? Was hättet ihr auch für eine Funktion, für eine „Besonderheit“ in dieser Welt, wenn all das nicht wäre ? Geschichtsprofessoren wärt ihr, nichts weiter. Graue alte Eminenzen, die am Lagerfeuer Gruselgeschichten erzählen.

DIE CYBERIMPLANTATE HABEN DICH FÜRWAHR VERDORBEN, NIKURIEL. DU BIST ZU JUNG, DIE DUMMHEIT DEINER WORTE ZU ERKENNEN. DIE IMPLANTATE, SIE VERSCHLIESSEN DEIN ALTER VOR DIR SELBST. WÜRDEST DU DIESE TÜR NUR ÖFFNEN, DU…

Ich will nichts davon hören. Ich will keine Geschichten mehr.

Weder Deine – noch meine. Ich werde fortgehen.

ICH WERDE DIR NICHTS MITGEBEN. DU WIRST NUR EIN GESCHEITERTER EX-SOLDAT SEIN. DEIN VATER HAT SICH VON DIR ABGEWANDT, SEINE FIRMA NUR EIN WEITERES UNTERNEHMEN DER SK-GRUPPE, FUTTER FÜR EINEN ANDEREN DRACHEN. DU WIRST NICHTS HABEN. WIE DEINE KAMERADEN WIRST DU IN EINEM GHETTO LANDEN, SCHABEN FRESSEN UND MIT HUNGRIGEM BLICK ZUM HIMMEL SCHAUEN, LEER DER BLICK, WEIL DU AUF DROGEN BIST. DU WIRST EIN NICHTS SEIN.

Besser das, als Dein Clown.

DU BIST NICHT MEIN CLOWN, NIKURIEL.

Mein Name ist Tolstoi.

3 Antworten zu “Drachenbrut 04 | Die Brut des Drachen (1)

  1. Sphyxis Februar 11, 2012 um 10:50

    Super spannend! Auch wenn mich die letzten zwei Teile etwas verwirrt zurückließen.
    Wann geht es denn weiter? – Drachenbrut, Schrappnell, News – Mein gewohnter Sonntags/Montags-Leseturnus wurde unterbrochen.
    Aber du hast bestimmt auch viel zu tun.

    • rabenaas Februar 12, 2012 um 21:30

      Ich gelobe Besserung. Allmählich lichtet sich auch das Nacharbeitschaos einer mehrwöchigen Erkältung 🙂 Vorgreifend zu weiteren Drachenbrut-Teilen muss ich aber einräumen, dass die Story ungefähr hier ihren Zenit erreicht hat und zumindest meiner Ansicht nach ab hier gewaltig nachlässt — was natürlich auch der Grund ist aus dem sie irgendwann nicht mehr weitergescvhrieben wurde. Einige weitere Teile gibt es aber noch … Futter ist also noch unterwegs 🙂

  2. Karel aka Carl Frieder Kathe Februar 12, 2012 um 17:19

    Ich glaube, die Tir n‘ Zagh Geschichte nimmt Bezug auf die vierte Welt, die Plage der Horrors damals, und darauf, daß damals ein Teil der Elfen in dieser Gegend ein Bündnis mit dem Drachen Mordrakhan einging, um ihr Land – Tir n‘ Zagh – zu retten, was aber die anderen damals als Verrat ansahen. – Tolstoi soll wohl eine „wiedergeborene Elfenseele“ aus der vierten Welt sein, die jedoch ihr eigenes Potential durch die Cyberware ruiniert hat.

    Bezieht sich also sehr stark auf das SR-Earthdawn-Crossover.

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