Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 05 | Von Dämonen und Engeln (13)

HAMBURG – 2049

Flach ausgestreckt liegt der Elf auf dem von der Sonnenwärme noch erfüllten Blechwelldach einer Hütte in Wildost. Die vergangenen drei Jahre haben ihre Spuren hinterlassen, Tod, der Verlust von Whitecloud und seiner Mutter, zuletzt sein Nervenzusammenbruch.

Das Pochen des Reflexboosters läßt ihn kurz zwinkern, dann korrigiert er erneut die Ausrichtung des Smart-Shotmikes anhand der Zielpeilung seiner Augen. Sein Blick zoomt weiter auf die beiden Soldaten der HanSec, die gute 800m entfernt am Haupttor stehen.

Er trägt seine russische Militäruniform, liegt im perfekt geschulten Belly-down auf Position, seine Kalashnikov an der Seite.

In seiner Phantasiewelt hat der Krieg nie aufgehört. Nur die Front hat sich verschoben, von Polen nach Wildost. Der Feind heißt HanSec. Die Waffen die eines Guerillakriegers. Psychological Warfare.

Der linke Soldat ist Hermann Gruhn. Um die 30, Rang Sergeant. Ledig. Er hat in keine Datenbank einsteigen müssen, um diese Informationen zu erhalten. Geduldiges Warten und sammeln von Bildern haben das Dossier komplettiert.

Der Mann mag seine Arbeit, glaubt an ein reines Deutschland, sympathisiert mit der PNE, für die er kräftig unter seinen Kollegen Werbung macht. Wie die meisten HanSec-Soldaten wohnt er die meiste Zeit in deren Kaserne in Neugraben, außer an jedem 2. Wochenende, wenn er in sein Apartement in Wantorf zurückkehrt.

Vor drei Tagen hat er an einem Sturm gegen WildOst teilgenommen, das Gesicht eine Maske des professionell kalten Militärs, die gepixelten Bilder zerspritzender Leiber im Helmdisplay, der Körper eine sich in der Gewalt sulende Bestie.

Der Mann neben ihm ist Nik Leutmann-Köffer. 26, verheiratet, eine Tochter. Von seiner Tochter hat Tolstoi mehrere Aufnahmen, da der Soldat allzu häufig seine Brieftasche zückt, um anderen Soldaten das Bild seines ganzen Stolzes zu zeigen. In letzter Zeit hat er ein paar Probleme mit ihr, sie kommt langsam in die Pubertät, wird aggressiv. Er stellt sie sich noch immer als sein kleines Mädchen vor – Alte Geschichte.

Auch er hat bei dem Sturm teilgenommen, hat auch geschossen, um Gottes willen natürlich nicht auf kleine Mädchen direkt – aber Kugeln durchschlagen in WildOst mehrere Wände, ehe sie in irgendeinem Körper steckenbleiben. HanSec verwendet AP-Munition.

Für ihn hat sich Tolstoi etwas ganz besonderes ausgedacht. Nicht das schnelle Aufblitzen eines Mündungsfeuers und den Sturz in die Hölle, der darauf folgen muß, wie bei Hermann.

Bei dem Gedanken daran, was er diesen Leuten antun wird, empfindet Tolstoi kein Mitleid. Nicht einmal Haß. Er fühlt nichts. Nur das kalte Surren der Elektrizität in seinem Körper, nur das Gefühl der Pflichterfüllung gegenüber seiner selbstgestellten Mission.

Eben fängt sein Richtmikro das Knacken des Funkgerätes von Nik auf, dem sein Schichtwechsel durchgegeben wird. Das Gesicht des HanSec hellt sich auf, denn das bedeutet für ihn Dienstschluß, Heimkehr zum Wochenende mit der Familie.

Tolstoi bezweifelt, daß ihm das gefallen wird, was er zu Hause zu hören bekommt.

Er hat Nik nach Hause verfolgt, weiß, wo er wohnt. Von da aus war es ein leichtes, seinem „kleinen Mädchen“ Nichole zur Schule zu folgen. So gut HanSec seine Soldaten in der Kaserne sichert, so schlecht sind doch die Sicherheiten bei den Familien. Zu teuer für Wegwerf-Soldaten unterer Gehaltsstufen.

Tolstoi ruft sich den Anblick des vierzehnjährigen Mädchens ins Gedächtnis, als er sich aus den Büschen schält und ihr einen OptiChip in die Hand drückt, auf dem in kindlich runder Schreibschrift geschrieben steht:

„Was mein Papa auf der Arbeit macht“.

Psychological Warfare. Tödlicher als eine gut plazierte Kugel. Und viel, viel grausamer.

Auch Hermann wendet sich zum Gehen, zu seinem BMW Z-3, mit dem er in der Stadt Mädchen aufreißen will.

Tolstoi rollt sich ab, taucht in die Düsternis von WildOst. Das Gewehr im Anschlag, sprintet er durch das Labyrinth der Gänge, in Richtung seines verrotteten JetSki-Bikes.

Minuten später ist er ein schwach gegen das wachsende Dunkel abgehobener Streifen weiß-grüner Gischt, der parallel zu dem auf dem Theodor-Storm-Damm wegbrausenden bulligen roten Sportwagen den Weg nach Hamburg nimmt.

Die Kalashnikov liegt quer auf seinem Schoß.

Durchgeladen.

Entsichert.

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