Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 05 | Von Dämonen und Engeln (9)

HAMBURG – 2053

Die Gestalt des Elfen auf seiner Pritsche ist dem Zimmer zugewandt, dessen Boden von Computerausdrucken bedeckt ist. Er selbst hält einen Stapel von Ausdrucken in Händen, die er zigaretterauchend durchsieht, einzelne Stellen mit einem Stift unterstreichend.

Es war nicht Anteilnahme an dem Schicksal von Codes Freundin, was ihn zu seinen Nachforschungen bewegt hatte. Tatsächlich hatte er Code schon einige Zeit nicht mehr gesehen.

Aber irgendwann, als die Kälte über ihn kam, nachdem er sich dazu entschlossen hatte, Nikuriel durch Drähte und Implantate ein für allemal auszusperren, entdeckte er eine neue Regung in ihm:

Er war immer weggelaufen. Und nun, hier in Wildost, hatte er eine Heimat gefunden. In dem Maße, wie ihn das Schicksal der anderen weniger und weniger interessierte, war sein Beschützerinstinkt für diejenigen, die noch sein Herz erreichen konnten, gewachsen. In einem Moment großer Klarheit hatte er erfaßt, was das Uhrwerk, die Maschine seines Lebens, für ihn bereithielt.

Seine Mutter hatte man ihm genommen, und Nadja, und Whitecloud.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn hier in Wildost wieder einholten. Nun, endlich, hatte Mordrak-Khan es wenigstens soweit gebracht, daß er nicht mehr weiter laufen konnte, daß er sich umwenden mußte und handeln.

Und dafür alleine haßt er ihn.

Als die verstümmelte Nachricht vom Involvement der Drachen und – mit ein wenig Nachforschungen seinerseits – einer Gruppierung namens Bayerische Illuminati von jenem Decker, den er einmal kurz im Cyberia gesehen hatte, im Netz auftauchten – und der Decker starb – da wurde er hellhörig.

Seither arbeiteten Suchroutinen und teilweise auch er selbst pausenlos daran, alles über Drachen zusammenzutragen, was sich finden ließ. Überall auf der Welt, in allen Zeiten und Legenden und Nachrichten und Boards und Gerüchten.

Die Liste der existenten großen Drachen war mittlerweile recht ansehnlich geworden: Von Llofwyr über die Regenkönigin zu Nachtmeister, Nebelherr und Dunkelzahn, von Chaong-Chui über den neuseeländischen Nadfa’har bis hin zu den Idolen der Drachentöter-Sekte in Venezuela und den Geschichten über den Niddhög, Grendel und wie sie alle hießen.

In einem externen Arbeitsspeicher verflechtet Tolstoi fieberhaft die verschiedenen, unablässig hereinströmenden Informationen mit seinen Erkenntnissen aus anderen Dokumenten, weist die Erscheinung eines Drachen in Monte Carlo anhand der detaillierten Beschreibung eines Augenzeugen dem Großen Drachen Korduli zu und systematisiert anhand der derzeit im Einzelfall fragmentarischen Aufzeichnungen ein psychologisches Profil der einzelnen Drachen und versucht sie in eine Matrix einzuordnen, welcher Drache erkennbare Sympathien bzw. Geschäftsinteressen bzw. Abneigungen gegenüber anderen Drachen erkennen läßt.

Vier anonyme Anrufe, die ihn zum Einstellen seiner Nachforschungen bewegen wollen, ignoriert er, auf seltsame Weise davon überzeugt, daß er zu diesem Zeitpunkt für keinen Drachen eine ausreichende Gefahr darstellt, um Schritte gegen ihn – und damit gegen Mordrak-Khan – zu rechtfertigen.

Vom Schwarzgeschuppten selbst hört er indes nichts.

Sein Hauptaugenmerk ruht natürlich auf den Vorgängen in Europa, ergänzt durch langatmiges Durchforsten von Meldungen über Aktivitäten der Russenmafia – bestätigte und erlogene – von 1850 bis heute.

Ein Ende der Arbeit ist lange nicht in Sicht, aber er hat Zeit – sehr viel Zeit.

Ein Link zwischen den Aktivitäten der deutschen Drachen und den Ursachen der Eurokriege hat er zwar bislang nicht ermitteln können, aber schon jetzt zeichnet sich die Tendenz, die Richtung des ganzen ab: Die Kriege der vietnamesischen Zigarettenmafia um 1995 in Berlin, die Schiebereien von atomwaffenfähigem Plutonium durch die allgegenwärtige Russenmafia und jugoslawischen Ringe, der Aufstieg der Banken und ihre dunklen Geschäfte mit unbestimmbaren Faktoren, sie alle lassen sich zu bestimmten Drachen zurückverfolgen.

Natürlich lediglich als Vermutung, niemals als schlüssiger Beweis, nicht mal als Indiz.

Fasziniert von der Komplexität des gordischen Knotens, wie es seiner Natur eigen ist, gräbt er tiefer, webt Details zu komplexeren Strukturen zusammen, als handele es sich um Befehlsketten eines russischen Militärsatteliten.

Neue Dateien entstehen: Eine Matrix über die Reihenfolge des Auftauchens der Drachen, allen voran Ryumyo. Die Daten werden auf Globalkarten verzeichnet, alphanumerische Berechnungen anhand Kalendarien verschiedenster Kulturen erstellt, unter besonderem Augenmerk auf den Kalender der Maya.

Theorien entstehen, Hypothesen, die durch aktuelle Nachrichten gefestigt oder widerlegt werden.

Die Gebilde werden so komplex, daß er immer neue Nebenrechner und Wechselplatten ersteht, nur um der schieren Flut an Daten Herr zu werden.

Träge dreht sich die Erdkugel auf dem Display eines kleinen Laptop, die Erscheinungsdaten der Drachen als Targetmarker unterschiedlicher Helligkeit hervorgehoben. Er korrigiert einige Formeln, nimmt neu eingetroffene Daten auf.

Auf Tischen und Stühlen verteilt liegen Bücher und Magazinzusammenfassungen über Datenextrapolation, Chaos-Theorie, Katzen, die halb-tot oder halb-lebend sind, Einsteinsche Relativitätstheorie und vieles mehr.

Eine Datenextrapolationsreihe beendend, drückt er auf die Eingabetaste, unterdessen der Laptop Jahrgang „29 surrend seine Arbeit aufnimmt.

Fluchend wühlt er sich durch das Meer an Printouts auf der Suche nach einem Notizzettel, den er vor gerade 2 Stunden beschrieben hat, als mit leisem „Ping“ der Laptop das Ende seiner Arbeit vermeldet.

NEXT APPEARANCE OF A GREATER DRAGON CALCULATED

Darunter ein Name, ein Längengrad, ein Breitengrad, ein Datum und eine Zeit.

Die Daten in die Globalkarte einsetzend, ein weiteres Puzzlestück hinzugefügt, lehnt er sich zurück.

„Australien, Frühjahr 2054“.

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