Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 03 | Jahre des Blutes (12)

POSEN | 2033

Die Druckwelle der Explosion schleudert Tolstoi über den Rand des Kraters, auf den er zugesprintet ist. Schlamm fliegt an seinem Kopf vorbei, als er die Schräge herabrollt und klatschend in der braunen Brühe aufschlägt, die sich in der Mitte angesammelt hat.

Er wirbelt seitlich aus der Pfütze heraus, preßt sich flach auf den weichen, lehmigen Boden.

Ein Fleck in seinem Blickfeld behindert seine Sicht, doch seine Hände sind zu dreckig, um ihn von der reflektierenden Oberfläche seiner Cyberaugen zu wischen. Er blinzelt ein paarmal in der Hoffnung, den Fleck zu entfernen, doch seine Augenflüssigkeit reicht nicht aus: In der Klinik Moskwa haben sie seine Tränendrüsen verkleinert, um die neuen Augen nicht mit den Talgabsonderungen zu verschmieren.

Er robbt den Abhang hinauf, blickt über den Rand. In 2.678m Entfernung schiebt sich der schwere deutsche Kettenpanzer vorwärts, Schlammwasser spritzt an den Seiten hoch. Ein Stück weiter rechts, an den ersten Häusern von Posen, blitzt das Mündungsfeuer weiterer Feindsoldaten.

In seinem Gesichtsfeld öffnet er ein kleines Fenster, das ihm die Positionsdaten seiner Kameraden überträgt.

Venka befindet sich gut 200m links von seiner Position, Michail, ein frisch eingezogener Norm, ist bei ihr. Ghandi tastet sich auf der anderen Seite des Hauses an die Soldaten heran, versucht, sie in die Zange zu nehmen. Das Positionslicht von Dimmis Helikopter ist verschwunden – eine Sicherheitsmaßnahme.

Am Rand des Fensters sind die Befehle abgelegt. Der Kettenpanzer ist vom Typ SAEDER-4, ein vorgeschobener Luftabwehrpanzer mit einer 12er SAM-Lafette. Damit Dimmi seinen Angriff auf die Soldaten zwischen den Häusern fliegen kann, muß der Panzer weg.

Tolstoi schüttelt sich – der Krieg ist immer noch der gleiche, aber es hat sich so viel verändert seit ’32. Dimmi hat sich eines dieser neuen Fahrzeugsteuerungssysteme einbauen lassen, die von den Westmächten „Rigging Systems“ genannt werden. Ghandi hat ein Dateninterface zu seiner Sturmkanone erhalten, er selbst Klasse-A-Cyberaugen. Andere Soldaten seiner Einheit, wie Venka, tragen kybernetische Prothesen, einige, so wie der Mongole, den sie Wladivostok nennen, hat sich sogar Waffen in seine Arme einbauen lassen.

Nachdem er gehört hatte, daß Nadja bei dem Terror-Anschlag auf das Internierungslager gestorben ist, hat er alles daran gesetzt, rauszukommen. Über seinen Vater hat er die notwendigen Genehmigungen für die Operation in Moskau erhalten, Cyberaugen und Reflexbooster – beides Prototypen von BABA YAGA – und sich nach seiner Genesung für den Fronteinsatz gemeldet. Viele Leute, die verknackt worden waren, hatten mit dem Hafterlassungsgesetz vom Frühjahr die Chance bekommen, ihre Haft durch Einsatz an der Front zu verkleinern oder gar zu beenden.

Tolstoi war das egal. Er hatte zu lange festgesessen. Die gottverdammten Nazi-Kons hatten diesen Krieg verursacht, an dem letztlich Nadja starb. Für ihn. Weil sie ihm hatte helfen wollen. Sein Haß mischte sich mit einer großen Müdigkeit gegen das Leben, einer Teilnahmslosigkeit. Nach Nadjas Tod waren seine Kameraden bei der Armee die einzigen Freunde, die er noch hatte, und es hatte ihn unglaublich gefreut, daß wenigstens Venka, Ghandi und Dimmi noch lebten.

Gemeinsam mit ihnen bildete er so etwas wie den harten Kern der Einheit, wozu ihre Cyber-Aufrüstungen nicht minder beitrugen.

TOLSTOI! Träumst Du schon wieder ?“

Venkas Stimme über Helmfunk holte ihn wieder zurück aus seinen Gedankengängen.

„Nein. Bin voll da.“

„Dann beweg“ Deinen süßen Arsch und geh auf Position 12, damit wir uns endlich die Ficker zwischen den Häusern vom Hals schaffen und den Panzer erledigen können. Ghandi wird Dir die Drekheads in genau… 30 Sekunden zuscheuchen. Roger ?“

„Ja, ja.“

Robbend bewegt sich Tolstoi auf eine Gruppe Büsche zu. Der abendliche Himmel wird von Leuchtspurmuni erhellt. Venka hält noch immer auf die Soldaten am Rand der Stadt, gibt Tolstoi Deckung, damit dieser sich seitlich der Häuser positionieren kann.

Er legt das MG an, klappt die Bodenstütze runter und dreht das Zielkabel fest. Seine Gedärme verknoten sich, als er auf die TAC-COM-Karte blickt. Ghandi befindet sich genau im Rücken der Soldaten.

Bisher war Tolstoi immer damit beschäftigt gewesen, den eigenen Arsch zu retten, aber diesmal war ihm die Funktion des Schlächters – bzw. des „Wolfes“, wie es im russischen Militärjargon so poetisch hieß – zugewiesen. Tausend Gedanken zuckten durch seinen Kopf. Klar, er hatte gegen die Kons kämpfen wollen, gegen das verschissene Regime, aber die Soldaten töten ?

Das waren auch nur Kerle, die dumm genug waren, beim Militär zu landen, oder abgeschobene Metas, oder Eingezogene. Leute wie er. Vielleicht mit Familien.

Er hatte sich zum Dienst gemeldet, aber eigentlich mehr mit dem Gedanken zu sterben, als zu töten.

T=00

Die Straße schallt im Tremolo von Ghandis Sturmgeschütz. Genau in Ziellinie von Tolstois MG hechten die Soldaten um die Ecke, kauern mit dem Rücken an der Wand. Wie in Trance zoomt er auf die Soldaten zu.

Einer von ihnen ist Ork, ein Barret schräg auf dem Kopf. Neben ihm rasiert Ghandis Kugelhagel die Hausecke ab. Neben dem Ork liegt ein junger Kerl auf der Seite, den es offenbar am Arm erwischt hat. Eine Elfe mit schwarzen, kurzen Haaren kümmert sich um ihn. Daneben sichert ein Norm von vielleicht 30 Jahren das Areal. Sein stoppliger Bart ist dreckverkrustet.

Tolstois Blick nagelt sich an der Elfe fest. Von hinten sieht sie fast aus wie… Er schließt die Augen.

„VERDAMMT NOCHMAL, TOLSTOI, WAS IST MIT DIR LOS ?“

Nathalya ? Nein, Venka ist es, die ihn via Funk anschreit.

„Ich… ich kann ni…“ Sein Satz wird von lautem Rattern eines MG abgeschnitten. Der blonde Norm hat Tolstoi entdeckt, feuert ziellos in seine Richtung. Tolstoi bemerkt nur entfernt, daß sein Smartaim noch immer genau auf den Soldaten ruht. Dann – wie es ihm antrainiert wurde – schließt er den Griff um den Abzug.

2000x vergrößert sieht er das Ergebnis seiner Tat wie in Zeitlupe. Die ersten drei Kugeln durchschlagen das Gesicht des blonden Soldaten, weitere Kugeln rasen der Elfe in den Rücken, die dem Jungen aufhelfen will. Der Ork formt ein Wort mit seinen Lippen, ehe quer über seinem Körper Fontänen von Blut entspringen.

Tolstoi erstarrt – der Blick gezoomt auf den Leib der Elfe.

NADJA!

Er läßt das Gewehr fallen, springt aus seiner Deckung und rast auf die fragile Form zu, die im dürren Gras zusammengesackt ist.

Eine fremde Stimme schreit in sein Headcom. Ein Klingeln hallt in seinem Hirn, ein lauter werdendes Dröhnen. Die Stimme im Headcom überschlägt sich.

Dann rauschen Flammen empor mit einem dumpfen Knall.

Und alles wird schwarz.

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