Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 06 | Schatten und Echos (4)

HAMBURG – 2048

Vermutlich weiß niemand ganz genau, warum sich überhaupt irgendjemand die Mühe macht, Lufterfrischer aufzustellen. Ich weiß ja nicht, wieviele Jahrhunderte des Menschen Ringen um duftende Luft zurückgeht, jedenfalls ist in meinen Kreisen das Ergebnis solch hehren Strebens auf minzfarbene Tannenbäume, rosig rund gepreßte Seifenstücke in verschimmelten Porzellanbecken und rasselnd-dröhnende Klimaanlagen reduziert, die alles tun, außer Klima anzulegen.

Zwei Mitarbeiter haben die Leichen in einen Nebenraum gezogen, aus dem jetzt das nervige Quiecken einer elektrischen Knochensäge zu hören ist.

In seiner Lunge klebt der abgestandene Geschmack viel zu vieler Zigaretten, während seine Finger andächtig einen herausgehusteten Klumpen braunen Schleimes zerreiben.

Jääch… Banality, here I come.

Er hat Angst. Wie jeder Raucher. Daran ändert auch das Medizinwunderland Deutschland ’48 nichts. Immer das gleiche: Keine Kur gegen eine Grippe, kein Mittel gegen Krebs. Jedenfalls nicht unterhalb von zuviel-Geld.

Er betrachtet den Schleim, der einige Minuten vorher noch harmonischer Teil seiner verteerten Lunge war. Selbstmord auf Raten.

Natürlich würde er aufhören. Wenn er nicht der wäre, der er ist. Niemand, der bereit ist, sein gottgegebenes Wesen zugunsten einiger wahrscheinlich ebenfalls krebsfördernder Implantate aufzugeben, hört auf zu rauchen.

Niemand, der für Knete Leute umlegt und der jederzeit damit rechnen muß, von ebensolchen bezahlten Kugeln völlig zerfetzt zu werden, hört mit dem Rauchen auf. Oder ernährt sich gesund. Oder betreibt geschützten Sex (nach AIDS hatte sich das Schicksal, Bastard das es ist, natürlich andere virulogische Späße ausgedacht. Ha. Ha. Ha.)

Das ist es schließlich, was die Schattenläufergemeinschaft zusammenhält – das Wissen um den nahen Tod.

Wenn Du mit Schattenläufern rumhängst, hast Du innerlich schon von jedem Deiner Chums Abschied genommen. Deshalb erzählst Du ihnen auch Dein Leben, obwohl sie’s nicht hören wollen: Erstens, um überhaupt irgendetwas zu hinterlassen außer einer Spendermilz in einem fremden Körper und zweitens (auch wenn das widersinnig ist) weil der andere, dem Du Deine Geheimnisse erzählst, ja genauso bald abkratzt wie Du.

Nur beiläufig stellt der Elf beim Abstreifen des Auswurfs unter dem zerfledderten Polster der Bank fest, daß auch andere schon auf diese Idee gekommen sind. Seine Gedanken bleiben am Skrotum ebenso hängen wie es selbst an seinen Fingern.

Jedem das seine. Einige sehen gemäß ihrer Art die Erfüllung in der bewußten und ausführlichen Wahrnehmung eines exotischen und völlig überteuerten Frühstücks, während Leute wie ich – ohne Frühstück – stundenlang über jene Dinge sinnieren können, die mit ihrem Leben verwurzwelt sind: Leichen, Schimmel, Sperma, Exkremente, Tod. Tod. Tod.

Scheiße. Zuweilen glaube ich, daß das einzige verbindende Element zwischen allen Menschen der Welt darin besteht, daß sie sich an einer roten Ampel stehend in der Nase bohren.

Zynismus und Sarkasmus waren ihm angenehmere Zeitgenossen geworden als hehre Gedanken an eine Liebe, die durch Machenschaft von „ihnen“ starben. Angenehmere Partner als Träume von weißen Wolken und grünen Wiesen.

Wann waren die Träume eigentlich verschwunden ? Es ist seltsam – nie weiß man, WANN genau man jemanden oder etwas verliert. Man weiß nur, daß es nicht mehr da ist. Ob nun Angewohnheiten oder Geliebte – man sagt zwar irgendwann „Jetzt ist Schluß“, aber Schluß war eigentlich schon vor langer Zeit – vorausgesetzt, man heißt nicht Tolstoi, der seine Geliebten immer dadurch verliert, daß sie getötet werden.

Immer ohne Abschied.

Ohne letzte Worte.

Wozu lieben ?

Rechtfertigt es den Schmerz ?

Nur ein kurzer Gedanke in seinem Geist angesichts der Erkenntnis, daß dieser Gedanke schon so oft gedacht worden ist, daß er unter erheblichen Abnutzungserscheinungen leidet und einen der besten Konversationskiller darstellt.

Er wendet sich wieder dem Fernsehen zu. Oh Fernsehen, mein Geist ist leer. Erfülle mich mit Sinn. Was soll ich kaufen ?

„Persil Hyperpack. Im Vergleich zu herkömmlichen Waschmitteln sind in den praktischen Knickpacks von Persil 80% mehr Aufbausulphogate, die tiefer als bisher in die Faser eindringen. Ob Schurwolle oder Latex, ihre Kleidung wird atomtief rein und hyperfrisch. Persil Hyperpack. Dum didel da.“

Zum Kotzen. Seit der Erfindung des Werbefernsehens zeigen sie in solchen Spots völlig weiße oder völlig bunte Wäsche. Entweder, es hat noch NIE ein Waschmittel gegeben, was wirklich sauber wäscht, oder die Kleidung wird heutzutage einfach dreckiger als früher.

Persönlich benutzte Tolstoi – wenn er denn schonmal seine Wäsche wusch – ein Produkt mit der phantasievollen Bezeichnung „Lukomil Intensiv Blutentferner“. Eh die einzigen Flecken, die er gewöhnlich entfernen mußte. Abgesehen davon: Was Blut entfernen kann, kann ALLES entfernen.

Längst war das Ende des Werbeblocks erreicht. Nach dem zweiten Satz der Nachrichtensprecherin implodiert zufällig der Fernseher.

Das Aroma verbrannter Kabel setzt sich schnell gegen den Lufterfrischer im Raum durch.

Die Tür geht auf und ein Norm mit quietschendem Cyberbein humpelt herein, gestützt auf einen anderen Norm, dessen Lederimitatjacke das Motto „Piß mich nicht an“ trägt. Aus dem Bein hängen einige unschöne Schläuche heraus, an denen Öl oder etwas ähnliches herabläuft. Die beiden lassen sich auf die frisch gereinigte Bank fallen. Schieben ihre verrutschten Waffenhalfter in ihr „Versteck“ unter der Jacke und grinsen Tolstoi an.

„Ey, wir habens eilig. Läßt Du uns vor (klick) bitte?“

Interessiert betrachtet der Elf die Mündung des schweren Revolvers, den das Lederimtat erstaunlich schnell in der Hand hat.

„.45er Coltmaster, nicht wahr ?“

„Kannste Deinen löwenzahnfressenden Arsch drauf verwetten.“

„Hm-hm.“ Und wendet sich wieder dem Fernseher zu.

Schieß doch, Du Arsch.

Er spürt, wie die Blicke von Lederimitat ihn förmlich auseinanderlegen. Aus seiner Sicht gibt es für das gerade Passierte nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Elf ist wahnsinnig tough oder wahnsinnig blöd. Oder nur wahnsinnig.

„Ey, Nudel, laß den Typ mal. Ich bin auch so schon fertig genug.“

„Du heißt… Nudel ?“

„Jou. Was dagegen ?“

„Kommt der Name daher, wovon ich denke, daß er herkommt?“

Gangleute wittern förmlich, wann sich die Gelegenheit für einen Kampf bietet, und entsprechend reagiert Nudel:

„Wovon denkst“n, daß er kommt, hä ?“

„Weil Du so ne dicke Nudel zwischen Deinen Beinen hast ?“

Nudel wälzt den Satz kurz im Hirn hin und her, findet aber keine offensichtliche Provokation darin. Dann lacht er breit. Und laut. Und dreckig. Und viel zu lang.

„Ey, Mann, klar. Weil ich hab“ nämlich Hamburgs größte Nudel, ey.“

„Glückwunsch.“

Das Lachen erstirbt.

„Meinstn das ? HÄ ?!“

„Na, weil ich als schwuler Löwenzahnfresser halt nur ein winziges Stummelchen als Schwanz habe. Und ich freu‘ mich für Dich, daß Du das Größte hast.“

Wiederum kämpft Nudels Gehirn mit sich selbst, und nach sorgfältiger Erwägung der Lage betrachtet er den Kommentar angesichts immer noch abgewandten Gesichts des Elfen als Beleidigung nicht nur seiner selbst, sondern auch seiner Nudel, und deshalb erhebt er sich langsam.

„Willst Du mich verscheißern, Du Spitzohr?“

„Ey, Nudel, laß‘ den Typen doch.“

Wenigstens der andere ahnt bereits, was die Antwort sein wird, die der schwarzgekleidete Elf gleich geben wird, ahnt das Ergebnis.

„Würde ich mir nie erlauben. Hab‘ Angst vor Dir.“

Das Leben geht manchmal seltsame Wege, und deshalb öffnet sich in diesem Moment die Tür, und der Arzt winkt Tolstoi herein.

Nur kurz hält der Arzt beim Schließen der Tür hinter Tolstoi inne, als er gedämpft ein zweifaches „Sploosh“ hört.

Aber ihr kleiner Tod ist für den Verlauf der großen Dinge völlig irrelevant.

Unbedeutend im Strom der Zeit.

Das ist es doch, was Mordrak-Khan und selbst Whitecloud sagte ?

Oder ?

Hallo ?

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