Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 04 | Die Brut des Drachen (6)


KIEV – 2035

Die Tasche in Tolstois Hand entgleitet seinem Griff. Raschelnd fällt sie in das Gewirr aus Pflanzen, das den Boden bedeckt, sackt auf die Seite.

Er kann es nicht begreifen, was seine Augen ihm mitzuteilen versuchen. Das alte Gartentor im Rücken, breitet sich der Garten seiner Kindertage vor ihm aus. Das Brummen des Taxis, das ihn nach Hause brachte, verebbt, doch sein zuhause ist fort.

Die alte Kinderschaukel überwuchert mit Efeu. Das Rund der Fenster leer. Man sieht Löcher klaffen, wo einst Wände waren. Sonnenstrahlen zeichnen verirrte Muster durch Stellen, wo einst schwere Balken eine schützende Decke über die prächtigen Zimmer ausbreiteten.

Wo einst der Brombeerbusch stand, erhebt sich nun eine unüberschaubare Hecke, die droht, den gesamten Garten – und Teile des Hauses – unter ihrer dunkelgrünen Pracht zu ersticken.

Der Ort, an dem er steht, kann seit jahrhunderten kein Heim für irgendjemanden gewesen sein, so verfallen ist alles hier. Kein Zeichen, daß dieser Garten von Kindern betreten würde, die in den ausladenden Ästen eines hundertjährigen Apfelbaumes, dessen Baumkrone große Teile des Gartens in schattiges Zwielicht taucht, Baumhäuser gebaut hätten. Keine Spur von achtlos über die umgebenden Mauern geworfenem Müll.

Der Garten und die Ruine, die einmal Nikolai Vladovs Heim war, liegen ruhig und verlassen in einem Schlummer, gerade so, als wären sie ein hohles Echo aus einer anderen Welt.

Tolstoi bemerkt, wie ihm Tränen über die Wangen strömen, ein nicht enden wollender Strom des Unverständnisses, Zornes, Trauer und Einsamkeit. Einer Einsamkeit, die ebenso allumfassend ist wie die perfekte Einsamkeit dieses Ortes.

Was hinderte ihn daran, sich der Einsamkeit dieses Ortes zu öffnen, im Gras niederzusinken und darauf zu warten, daß der Wuchs der Pflanzen ihn ebenso vor den Blicken der Welt verbergen wird wie die Steine des Hauses ? Was gäbe es dort draußen zu sehen, was nicht hier in diesem Garten zu finden sei?

Er steht noch immer regungslos in der Auffahrt, deren steiniger Grund schon seit vielen Jahren im Gewirr der Pflanzen verlorengegangen ist.

Die Luft ist erfüllt vom vielfältigen Summen der Insekten, vom Flügelschlag hunderter Schmetterlinge, vom Hall der Liebeslieder der Vögel, die in den Rundungen der Büsche und Bäume ruhen. Trotz all dieser Musik hier ist der Garten voll Ruhe, so vollkommen in seinem Verfall wie die Strophe eines Liedes, das ein Engel auf die Wange eines kleinen Mädchens gehaucht hat, so unendlich perfekt wie eine einzelne Träne, die aus dem Auge hervortritt, das gerade ein Liebesgedicht gelesen hat und dessen Herz so voll vom schweren Wein der Liebe ist, das es zerbersten möchte.

Schauer laufen über den Leib des Elfen, während er sich der totalen Windstille in diesem Garten aus Zeit und Erinnerung und Verfall gewahr wird.

Seltsam berührt und entrückt zugleich schließt er die Augen, und indem er sie wieder öffnet erkennt er das Wesen des Gartens.

Was ein Versprechen des Paradieses ist, eine Einladung zum Verweil, ist ebenso ummauert wie die im Schnee vergessenen Gebäude des Internierungslagers. Das ist das Wesen dieses Gartens: Ein Ort des Vergessens, ein Ort, an dem Leute vergessen werden. Jemand will ihn hier vergessen.

Und eine Ahnung vom Urheber dieses Werkes erfüllt seinen Verstand. Die Frage wächst in ihm, was der Schwarzgeschuppte von ihm erwartet – daß er hier bliebe um vergessen zu werden und sich selbst zu vergessen ? Oder daß er eben gerade sich abwende von diesem Ort des perfekten Seins-im-Nicht-sein, sich abwende in Ekel vor genau dem, was sein Herz hier zu finden hoffte, und zurückkehre an die Seite des Drachen.

Es ist unwichtig, was seine Erwartung ist – oder die irgendeines anderen. Vor aller Welt ist nur eines von wahrem Wert: Die Entscheidung, die Du triffst – vor Dir selbst. Was wäre es denn, daß es von Wichtigkeit sei, wer seine Hoffnung in Dich setze. Nicht sind wir Eigentum von irgendetwas oder irgendjemand, selbst wenn wir dies manchmal wünschten. Unsere Freiheit erfahren wir nur in einem Augenblick: Da wir alle Zweifel hinter uns lassen, da wir tief in unsere Seele tauchen, bis wir unser Herz finden, und dieses offen preisgeben. Der Sinn unseres ganzen Lebens liegt in jenem einen Wort, das tief in uns emporwächst und uns gleichsam erleichternd wie ängstigend, aber warm und voll wie süßer Honig von den Lippen rinnt:

JA

Ja zum Leben, ja zu Dir selbst, ja zu demjenigen, der stumm an Deiner Seite wandelt und sich keinen Lohn erhofft als eben an dieser Seite wandeln zu dürfen. Darin erweist sich unser größter Test, unsere größte Freiheit, und unser Triumph. Die Freude dieses Wortes vermag uns so groß zu sein, daß es uns die Stimme zum Zittern bringt. Das Schlucken wird uns versagt, da unser Leib das Naß des Mundes gleich einem reinen, salzenen Quell unseren Augen zuführt wie der Vater die Braut zum Bräutigam.

Was gäbe es also zu fürchten ?

Ist dies so einfach, Jelziah?

Ja, mein Freund – ich muß es wissen, denn von all dem, was ich Dich gelehrt, ist dies das Geschenk der Geschenke gewesen, das ich von Dir empfangen habe. Stolz und Selbstsucht haben mich gefangengehalten für lange Zeit, ehe ich Deine Lehre verstanden habe, denn das Einfache ist meist schwerer zu erfassen denn das komplizierteste Muster von Fäden, das ich zu weben vermag.. Entscheide Du Deinen Weg, und alles wird sich letztlich doch zum Guten wenden. Nicht heute. Nicht morgen. Aber irgendwann. Nur wer das Tal der Qualen durchwandert hat, wer der Finsternis ins Antlitz gesehen hat, der vermag das Licht jenseits des Horizontes zu erkennen.

Jenes Licht, von dem wir alle kommen, und zu dem wir zurückkehren werden, selbst wenn die Sterne zu Staub geworden sind und wir mehre Geschichten in den Märchenbüchern von Feen und Geistern.

Sein Griff umschließt den Riemen der Tasche, und indem er sie aufnimmt, wendet er sich ab.

Kurz hält er inne und wirft einen Blick zurück zu den Ruinen seines hellen Landes aus Kinderträumen, dann preßt er die Lider so stark zusammen, das Feuchtigkeit zwischen ihnen emporquellt, und schlägt das quietschend-rostig schwarze Tor hinter sich zu.

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