Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 04 | Die Brut des Drachen (7)


HAMBURG – 2044

Rauch beißt in Fatimas Augen, brennt in ihrer Lunge, deren kleine zähe Muskeln hämmernd um Luft ringen. Die schlanken schwarzen Arme der Frau, zu der sie von den dunklen Männern geschickt wurde, reißen sie weg, doch trotzdem versucht sie die Hand des bewußtlosen Elfen festzuhalten.

Sie ist erst vor ein paar Tagen hier angekommen, hier an diesem fremden Ort. Verlassen und hungrig hat sie den größten Teil der vergangenen Monate verbracht, ihre Eltern vergangen im Lärm dröhnender Motorräder, vor ihren Augen niedergemetzelt von einer Randale-Gang.

Zuerst dachte sie, sie müsse sterben, doch ihr kleiner Körper wollte noch nicht gehen. Sie schlief in leeren Kartons hinter den Müllcontainern des Rathausstadt-Plexes, ein sechsjähriges Kind ohne Halt, Hoffnung oder Zukunft.

Dann war da einer gewesen, der ihr zu essen gab. Vorsichtig kam er, jeden Abend, zu ihrem Karton, und warf ihr Essen zu, vorsichtig, wie wenn man ein verängstigtes Tier behandelt. Irgendwann vertraute sie ihm, kam hervorgekrochen. Er gab ihr zu essen und seine Jacke, nahm sie mit in ein Auto, brachte sie zu einem schwarzen Mann.

Alles an ihm war so groß und rein und allumfassend perfekt in seiner Schwärze, daß sie nur einfach dastehen konnte. Seine Stimme war sanft und kühl wie der Winterwind, den Du hörst, kurz ehe Du erfrierst. Er strich ihr über die Wangen und sprach im Singsang dieser fremden Sprache zu dem, der ihr zu Essen gegeben hatte.

Er gab ihm Geld, ein unscheinbares, schlankes, schwarzes Metallröhrchen. Dann ließ er sich auf ein Knie nieder und sah ihr direkt in die Augen. Seine Pupillen hatten die Farbe von Schnee, seine Haare ein feines Gespinst glattglänzender Schwärze, über das kleine Fegefeuer blauer Reflexionen huschten. Er küßte sie auf die Stirn, dann erhob er sich wieder und rief einen anderen herbei, der Fatima hierher brachte. An diesen fremden Ort. Wo die Leute so komische Dinge tun. Sie dankt Gott dafür, daß sie das nicht mit ihr tun, das sagt sie ihm auch jeden Abend in ihren Gebeten. Die Ahnung an einen fernen Tag, wo sich das ändern wird, lebt irgendwo hinter ihren Zeichnungen und Armbändchen, versteckt und kühl und schwarz und düster und ebenso gewiß wie die aufkommende Nacht.

Ebenso sicher, unausweichlich und unbarmherzig wie der flammende Drachenodem der Flammen, die durch das Zimmer des fremden Elfen mit dem schwarzen Haar fauchen.

Langsam erst gleiten ihre Finger über den feuchten Handrücken des Elfen ab, greifen leere Luft, unterdessen die schwarze Frau sie auf den Arm nimmt und aus dem tosenden Lärm der Flammen in Tolstois Zimmer wegreißt.

Der rechte Arm des schwarzhaarigen Russen ruht noch immer ermattet neben dem Bett, wo ihm die Zigarettenkippe entglitt. Auf seiner Brust erhebt sich die schwarz-schwelende Gestalt der fremden Katze, die Fatima manchmal glaubte in ihren Träumen gesehen zu haben. Die Katze schreit, ob vor Schmerz oder um den Elfen gewaltsam aus seiner elektrisch induzierten Traumwelt zu reißen, ist schwer zu sagen. Ihre Krallen fahren wieder und wieder in das schwelende Fleisch des großen Mannes mit der sanften Stimme, der Fatima mehr bedeutet, als ihr kleines Herz zu erfassen vermag.

Unsanft wird die kleine Elfe von Zaira weggestoßen, ehe diese herumwirbelt und in das Zimmer zurückstürmt, den Kopf des Elfen von der Metallstrippe, die ihn mit seiner Fantasiewelt verbindet, zu trennen. Durch das Potseluj klingen die Schreie von Menschen, als das Feuer rasend schnell über Wände und Decke leckt und sich hungrig auf das Leben rund um Tolstois Zimmer stürzt. Stiefel rasen über Fatimas Leib hinweg, ein Fuß zermalmt die feinen Knochen ihrer linken Hand.

Eines der Mädchen wirft sich vom Balkon in den darunterliegenden Raum, ihre Haare eine einzige zuckende Feuerbrunst. Kaum gelandet, entstehen kleine Feuernester auf dem Sofa. Sie rollt sich zur Seite, aus dem Weg, denn schon stürmen weitere Anwohner herbei, bilden eine Wasserkette.

Feuer ist die größte Bedrohung für Wildost, noch vor Hunger und Leid und den Schrecken der HanSec. Ein nicht rechtzeitig gestoppter Brand verbreitet sich hier so schnell, daß Du verbrannt bist, ehe Du eine Chance hast, aus Deinem Schlaf hochzufahren. Fatimas Leib krampft sich zusammen, als die rostig-scharfe Unterkante eines vollen Wassereimers gegen ihre Stirn schlägt.

Entfernt sieht sie, wie die Frau, die sie Zaira rufen, zusammen mit einem fremden Mann den Elfen aus dem Zimmer bringt. Sein Kopf ist nach hinten gerollt, und ein seltsam entrücktes Lächeln umspielt seine Lippen.

Was mag er sehen in seiner Welt ? Weiß er denn nicht, wieviel Leid er in dieser Nacht erzeugt hat ?

Fatima rappelt sich auf, stellt sich in eine Ecke und beginnt zu schluchzen.Todesschreie dringen an ihr Ohr. Schreie und das Fauchen von Feuer, wie das Dröhnen von Motoren über einer blutbespritzten Straße, in einem fremden, feindlichen Land. Obwohl sie ihm helfen, sieht Fatima Haß auf die Gesichter der Männer geschrieben, die Tolstoi nun entgegennehmen. Ein Mann schreit auf ihn ein, beschimpft ihn auf Russisch, schlägt ihm ins Gesicht, doch Tolstoi lächelt nur sanft, die Augen halb geöffnet.

– – –

Der Schmerz war nur kurz, ebenso wie der zuckende Schein der Flammen. Ein sanfter Übergang von der Bilderflut eines elektronischen Paradieses zur dämmrigen Halbwelt der Bewußtlosigkeit. Sein Atem ist flach und langsam, jeder Zug treibt neue Wolken giftiger heißer Gase in sein Blut.

Die Welt um ihn ist verschwunden in einer vagen Erinnerung daran, einmal existiert zu haben – irgendwo, an einem fremden Ort, in einem fremden Land, das er ebensowenig wollte wie es ihn. Diese Existenz hinter sich gelassen zu haben, erfüllt Tolstois Herz mit Freude. Der einzig mögliche Triumph gegen die Ketten, die von den Wesen dieser Welt für ihn geschmiedet wurden.

Auf Wiedersehen, ihr Drachen und Katzen und Feen und Magier, ihr Hexer und Firmen und falschen Propheten, ihr Nathalyas und Baba Yagas und Nadjas und Nikuriels, ihr Mordrakkans und Produjews, ihr Jelziahs und Niklas, ihr Kalten und Warmen und Lieben und Leeren und Fremden und Freunde und Feinde und Falschen. Egal wie sehr ihr euch bemüht habt, nun, am Ende, bin ich euch doch entwischt. Ich bin nicht im Kampf gefallen, nicht als Held, nicht als der eine, der ich zu sein bestimmt war, sondern als ein Nichts, als ich, als Tolstoi.

Durch die Finsternis um ihn gleitet er haltlos in eine Richtung, aus der mattes Zwielicht entspringt. Kalte Farben umtanzen die Silhouette zweier Frauen, die eine hochgewachsen, die andere ein Kind. Nein, halt, die Farben umströmen nur das Kind, die Große ist in mattgraues Zwielicht gekleidet. Nadja ? Es muß sie sein, es kann
nur sie sein, und doch ist ihr Haar schwarz wie ihre Augen, und auf ihrer Brust prangt der silberne Schein eines Ankh.

Traurig ist ihr Blick, den sie dem Elfen entgegenschickt, unterdessen der Blick des Kindes irgendwo zwischen seinen Händen versinkt, aus denen bunte Schmetterlinge emporsteigen.

Und die Frau, die nicht Nadja ist, die er aber dennoch kennt, senkt den Blick und flüstert:

„Was hast Du getan, Nikolai ?“

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