Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 06 | Schatten und Echos (2)

HAMBURG – 2045

„Ißt Du nichts ?“

Wieder nimmt ihr Gesicht den Ausdruck ungläubigen Lächelns an, an den sich Tolstoi schon gewöhnt hat. Ständig tut sie das – ständig als ob er etwas sagen würde, was komisch wäre, als lache sie über einen Witz, den er nicht versteht.

Es treibt ihn noch zum Wahnsinn.

Zu lieben, und doch zu wissen, daß man den anderen nicht lieben kann, weil man nicht weiß, was er/sie ist. Er kneift die Augen zusammen, eine Reflexreaktion auf seine veralteten Cyberaugen, die dringend des Austausches einiger Teile bedürften.

Auch das treibt ihn noch zum Wahnsinn.

Ein Fremdkörper in seinem Körper, eine Stelle, die man nicht kratzen kann, Teil eines Körpers, zu dem die Implantate nicht gehören, selbst Teil einer Situation, einer Szene, eines Abschnittes in einem Buch und doch deplaziert.

Wütend entkorkt er eine Flasche Sekt und teilt dabei doch das gütige Lächeln seines Gegenübers, nur um selbst ein Geheimnis zu haben, von dem sie nichts ahnt. Verschlossenheit statt Offenheit. Austausch von Belanglosigkeit, um das Vakuum der Konversation zu füllen.

Gut, daß er die Flasche nun angesetzt hat und trinkt, kostbare Sekunden des entschuldbaren Schweigens, Time-Out zwischen den Halbzeiten eines Tanzes in Wut und Aggression gegenüber jemandem, den man mit aller Kraft liebt.

Natürlich kann er nichts verbergen. Die kindlich-weibliche Gestalt Whiteclouds durchblättert seine Mimik, seine Gedanken, seine Seele wie einen schlecht geschriebenen Roman.

Wahnsinn.

Wahnsinn deshalb, weil ihr Blick, ihr Lächeln, ihr mentales Eindringen in die Dunkelheit seines Selbst irgendwo eine Saite berührt, die auf ihre Augen anspricht. Eine Saite, die tief verschüttet in ihm ruht und nun gleich einem im Boden ruhenden Keimling die ferne Sonne verspürt, die Gewißheit, an ihren Strahlen zu wachsen.

Eine Saite, die man nicht kratzen kann.

Die Flüssigkeit aus dem schwarzen Rund der Flasche perlt in seinen Hals, erfüllt ihn mit Wärme und Kälte zugleich. Er muß absetzen, stößt kurz einen Atemzug Luft durch die Nase in den Qualm des Raumes, ehe er erneut ansetzt. Er braucht mehr Zeit. Und ihre Augen fixieren ihn verständnisvoll, die Lippen zu einem leichten Lächeln geschürzt, von dem alleine sie weiß, ob Liebe oder Spott in ihm schlummert – falls das einen Unterschied macht.

Seine Augen jucken. Gräßliches Gefühl. Er könnte sadistischen Magiern noch Tips für exquisite Flüche geben – 1 Jahr Jucken hinter den Augen. Und ab in die Klapse.

Er setzt ab, schwer schluckend. Schon tasten seine Finger zwischen den leeren Schachteln von SoyBurger nach den Zigaretten. Konzentriertes Suchen. Konzentriertes Anstecken. Konzentriertes Rauchen – konzentrierter Schwachsinn, um ihrem Blick ausweichen zu können, ohne daß es auffällt.

Stille. Lächeln.

Er weiß, daß sie möchte, daß er darüber redet, was ihn wütend macht. Das macht ihn wütend.

Wenn nur seine verdammten Augen nicht jucken würden, wenn nur dieses Singen in seinen Ohren aufhören würde, wenn er nur nicht soviel Sekt getrunken hätte – oder teureren gekauft – können wir nicht einfach ficken, um uns dabei anschweigen zu können? Darum gehts doch bei Sex, oder ?

Sein Blick gleitet über ihre Brüste, über ihre von der zugigen Kälte in seinem Verschlag verhärteten Brustwarzen und fokussiert so langsam sein Denken auf den Akt, bis die angenehm vertraute Schwellung in seiner Hose Gefühle von Augenjucken und ungesundem Denken überstrahlt. Wiederum lächelt er. Ob Troll, Ork, Mensch oder Elf – bestimmte Dinge im männlichen Organismus funktionieren nach wie vor.

Kurz blickt er auf, blickt in ihre Augen – und erstarrt ob des kühlen Zornes in ihnen. Sie ist nicht prüde – ihre Ablehnung gegenüber seinen Gedanken erstreckt sich lediglich auf die Kälte seiner eigenen Gedanken.

Hätten sie miteinander geschlafen in diesem Moment, hätte er anschließend Selbstekel empfunden – aber nun, da seine Erektion von ihren Blicken in die einfältige Normalform zurückgezwungen wird, kommt der Selbstekel auch ohne vorherigen Sex. Und mit ihm: die Wut.

Zahlreiche Absätze voller Kommunikation zwischen zwei Seelen, ohne daß ein Wort gewechselt wurde – Gestik und Mimik können etwas Beängstigendes sein, auch wenn man nicht in einem zugigen Verschlag im Altonaer Ghetto sitzt.

Der Blick des Elfen weicht wiederum aus, heftet sich auf den kleinen tragbaren Fernseher, der halb zwischen seiner Lederjacke und ungewaschenen Socken hervorlugt.

Ungewaschene Socken – das ist Realität. Im Fernseher haben die Leute nie ungewaschene Socken, gehen nie aufs Klo – und haben vor allem nie so grauenhafte Konversationen wie die, die gerade hier und jetzt abläuft. „Wenn Du mal völlig verwirrt bist und nicht mehr weißt, was Traum und was Realität ist, schau fern – und denk“ Dir alles weg, was Du da siehst. Was übrigbleibt, ist die Realität.“ Stand mal in einem St.Georg-Fanzine irgendeiner Sekte, die Fernsehen für Terror hält. Recht haben sie.

Das Rascheln ihres Kleides reißt ihn aus der angenehmen Taubheit seiner Gedankenspaziergänge, zwingt ihn auf die subtilste – und daher grausamste – aller Weisen dazu, sich wieder ihrem Gesicht zuzuwenden.

Gott, wie er haßt. Ob nun sie oder sich selbst, weiß er noch nicht. Was tut sie denn schon, außer totale Kontrolle über ihn zu haben ? Er kann sich doch selbst erlösen, indem er einfach losläßt. Es gibt nun echt genug, was Kontrolle über ihn hat, da ist Whitecloud nun wirklich nicht die schlechteste Wahl.

Wie zufällig (auch die Instinkte sind hinterhältig) fällt sein Blick, indem er sich ihrem Gesicht abwenden muß, erneut auf die Brüste, Selbstekel wallt empor, sein Blick zuckt zu den Socken, Nackenhaare richten sich in der kühlen Zugluft auf, alles innerhalb von Sekunden, ein leichter Schwindel setzt ein (Scheiß-Sekt) während das Klopfen seines Blutes in den Ohren dröhnt. Und dann jucken die Augen wieder.

Ruckartig steht er auf. Leere Pappschachteln, durchgeweicht von Bratfett, rutschen nahezu zärtlich am Leder seiner Hose ab. Ein Papiertuch in rot und gelb mit der Aufschrift „Soyburger“ auf das jemand ein kritzeliges „P“ nebst einem Kreuz gemalt hat, klammert sich verzweifelt gegen den Luftzug der Aufwärtsbewegung fest, verliert den Kampf der Muskeln des Elfen gegen die Schwerkraft jedoch und gleitet, eine grazile Pirouette beschreibend und ein klägliches Rascheln ausstoßend, zu Boden. Sekunden später wird seine runzelige Gestalt zufällig vom schweren Kampfstiefel des Elfen in neue Form gepreßt.

Der Elf steht. Soviel ist sicher. Mühsam ringt sein Hirn mit der Erkenntnis des Stehens und versucht, der neuen Situation vor seiner Geliebten irgendeinen Sinn zu geben. Wäre dies eine Wohnung, würde er zum Kühlschrank gehen und etwas – irgendetwas (wahrscheinlich gesundheitsschädliches oder kalorienreiches) – holen, aber dies ist ein 3-Sterne-Altonaer-Dreckloch und alles, was hier gibt, ist das Klo auf dem Gang.

Also geht er aufs Klo.

Natürlich tut es ihm auf dem Gang leid, daß er sie einfach so hat sitzen lassen. Alleine, ohne Erklärung. Vielleicht gibt sie sich Schuld an seinem Zorn (Scheiße, warum auch nicht ?) und er will sie nicht verletzen. Aber er weiß, daß sein Aufstehen sie verletzt hat – oder jedenfalls sagt das sein trunkenes Hirn – und Schuldgefühl wallt auf.

Es braucht eine Weile, sich wieder an Zweisamkeit zu gewöhnen.

Aber solch beruhigende Gedanken will ein vollgesoffenes Hirn auf dem Schuldtrip nicht hören. Also pißt er und weint – das heißt, die Muskeln um seine Augen verkrampfen sich in einem Fast-Heulen, aber die verengten Flüssigkeitskanäle der Augen geben der Hygiene der Implantate zuliebe keine Flüssigkeit her.

Es juckt einfach nur.

Ob sie auch so mit sich selbst beschäftigt ist ? Tolstoi weiß es nicht, bezweifelt es aber. Nur er ist so ich-fixiert. Nur er hat juckende Augen.

Und dann ist sie plötzlich hinter ihm – um ihn. Streichelt ihn. Gießt Wärme in seinen Leib. Schamgefühl angesichts ihres gegenwärtigen Aufenthaltsortes, einem versifften Klo, in dem es nach Kotze und Scheiße stinkt und in dem jemand einen Tampon „verloren“ hat (nebst einem benutzen Kondom – ah, ja, alles klar), gibt es nicht. Sie kennt jenes Gefühl wahrscheinlich nicht, und ihre Unbefangenheit ertränkt Tolstois Scham.

Die merkwürdigsten Empfindungen durchrasen seinen Körper, aber die angenehmste ist die, ihre zarten Hände um seine Brust geschlungen zu spüren, ihren Leib an seinem Rücken zu spüren und doch keine Erektion zu bekommen – ganz so, wie man es nur bei seiner Mutter spüren kann, wenn sie Dich liebevoll in den Arm nimmt.

Niemand kann das sonst – wenn Du richtig im Kopf bist, und selbst dann, wenn Du ansonsten ziemlich krank bist.

Er schließt die Augen, zieht sich innerlich in eine fötale Haltung zurück. Das ferne Knattern eines Motorbootes ertrinkt in ihren Armen ebenso wie das wütende Geschrei des Mannes im Stock darüber, der seine Frau schlägt. Ihre Umarmung läßt den faulig-banalen Geruch verblassen, das Brennen der Augen, das Pochen des Blutes.

Sein Atem wird ruhiger, flacher. Er wird von ihrer Wärme erfüllt, die ihn tiefer und tiefer in wohlige Dunkelheit gleiten läßt.

Schließlich reißt sein Atem ganz ab, das Pochen des Herzens erstirbt.

Aber auch dies ist unbedeutend.

– – –

Die Kamera fährt zurück, löst sich vom Anblick der beiden ineinander verschlungenen Gestalten. Zoomt zurück bis weit über den Punkt, wo die Decke sein müßte.

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