Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 06 | Schatten und Echos (9)

BEVAL – WEIHNACHTEN 2031

Die dünne Metalltür zu den Unterkünften fliegt auf, treibt eine Wolke Schneeflocken über den schmierigbraunen PVC-Belag des Bodens.

Hastig treten dick Vermummte in den Raum, der Größte der fünf rammt die Tür hinter sich zu. Unter der dicken Kleidung, den Schneebrillen und Waffengurten, den Atemmasken und Panzerfäustlingen ist nichts von ihrer Identität auszumachen außer den Registriernummern, die auf einem festgenuteten Etikett an ihren Schultern eingestanzt sind.

Der Troll befreit als erster sein Gesicht von der Maskierung, blickt starr geradeaus und flucht.

„Was mich echt ankotzt, ist, daß diese Scheißbrille immer beschlägt.“

Er sucht seine Arme nach einem trockenen Stück Stoff ab, mit dem er seine dünn umrandete Brille abwischen könnte, findet aber keines. Die schwere Sturmkanone knallt schallend zu Boden.

Unter der Pelzverkleidung der Kapuze kommt Venkas Gesicht zum Vorschein, die sichtlich Mühe hat, auf dem glatten Boden zu stehen – zemtimeterdick klumpt Schnee unter ihren rutschfesten Stiefeln.

„Soll das heißen, daß Du ohne Brille die Kletterwand geschafft hättest ?“

„Hrrmph. Goten sollten zum Draufschlagen ausgebildet werden, nicht zum Herumklettern.“

„Und auch Dir frohe Weihnachten“ meint Dimmi mürrisch, der noch nicht die Schneebrille abgesetzt, aber bereits eine angenäßte Zigarette angezündet hat. „Tong“ um „Tong“ läßt er die Granaten aus seinem Gürtel in die metallene Reservebox fallen, lehnt sich dann an den Blechschrank.

„Hey, freut euch doch über den Schnee – solange es derart arschkalt ist, werden die Deutschen wohl eher zuhause bleiben, statt an der Front ihre Hoden einzufrieren.“

Die sonore Stimme gehört zu einem muskelbepackten Sarmaten, der erst vor 14 Tagen in das Trainingslager gekommen war. Sein Name ist Wolodja – das heißt, so nennen ihn alle. Im bürgerlichen Leben heißt er Wladimir Iwanowitsch Andropov und ist Taxifahrer in Moskau, verheiratet, 4 Kinder.

„Willkommen in Stalingrad“ läßt Tolstoi vernehmen, der sich dicke Klumpen Eis von den Fäustlingen klopft, indem er sie wiederholt gegen den Schrank pfeffert. Wie bei allen ist seine Stimmung durch die komplette Streichung aller Heimurlaubsgesuche für Weihnachten nicht gerade die Beste.

Streichung von Weihnachtsurlaub für alle Grade – ein solcher Schlag gegen die Truppenmoral mußte triftige Gründe haben. Gründe, die Tolstoi wahrscheinlich nicht gefallen würden.

Auf dem kleinen Ofen des Zimmers pfeift der Teekessel, was Bewegung in die abgekämpften Rekruten bringt. Für später ist eine kleine Weihnachtsfeier in der Kantine vorgesehen, wo auch die Weihnachtspäckchen verteilt werden sollen.

Tolstoi blickt kurz über die Schulter zu Venka zurück, die geistesabwesend die Sohlen ihrer Stiefel mit einem Armeemesser bearbeitet. Das bevorstehende Fest macht sie niedergeschlagen.

Für sie würde kein Päckchen kommen, da ihre Familie – wie sie selbst Georgier – in den seit Monaten anhaltenden Unruhen in der Region umgekommen ist – einer der Gründe, warum sie sich freiwillig zur Front gemeldet hatte.

Tolstoi schiebt das in graues Zeitungspapier eingeschlagene Päckchen tiefer in sein Versteck unter die lange Unterwäsche und lächelt. Der Gedanke an ihre Überraschung, wenn bei der Paketverteilung ihr Name ausgerufen wird, hatte ihn gewärmt in den letzten Tagen.

Still hoffte er wider aller Wahrscheinlichkeit, daß sein Päckchen an Nadja durch den Schwarzmarkt zugestellt werden würde. Fast 800 Rubel hatte er sich die Zustellung kosten lassen, aber seine Hoffnungen waren dennoch begrenzt.

„Kennt ihr den ?“, wirft Dimmi ein, „Was ist der Unterschied zwischen einem Soldaten, einem Offizier, einem General und einem Militärarzt ?“

Ghandi schnauft unverständlich. Venka flucht, weil sie sich an der Teekanne die Finger verbrannt hat. Wolodja puhlt seinen Bart aus dem Reißverschluß der Panzerweste. Tolstoi durchsucht den Spind nach seinen Zigaretten.

„Also: Der Soldat tut alles, weiß aber nichts, der Offizier tut nichts, weiß aber alles, der General tut und weiß nichts, und der Sani tut alles, aber erst, wenn’s zu spät ist.“

Niemand lacht – außer Dimmi. Der nimmt eine Prise Schnupftabak und läßt sich aufs Bett fallen, kramt ein Pornoheft hervor und studiert den Inhalt.

„Ghandi ? Hast Du noch Kippen ?“

Wortlos reicht der hühnenhafte Gote Tolstoi eine Zigarette, deren Form mehr einem überfahrenen Regenwurm gleicht.

„Errh… Danke.“

Venka gießt heißen Tee in Zinnbecher, die schnell so heiß werden, daß man sie kaum anfassen kann. Wolodja studiert kurz das Chaos aus Stiefeln und Jacken, das auf dem Boden verstreut ist, rappelt sich auf, studiert es weiter, macht eine wegwerfende Geste mit seiner Hand und setzt sich wieder hin.

Teetrinken. Schweigen.

„Wenn Dir das nächste Mal der Abzug festfriert, solltest Du ihn mit einem Feuerzeug enteisen“ meint Ghandi zu Wolodja schließlich.

„Spitzenidee“ brummelt der Zwerg, der immer noch dabei ist, Eisklumpen aus seinem Bart zu pfriemeln. „Besonders nachts bei Schneesturm – Entweder Du kriegst es nicht an oder Du sagst dem deutschen Heckenschützen, wohin er feuern soll.“

„Mein Gott, war ja nur’n Vorschlag.“

Schweigen.

Dimmi pfeift durch seine Hauer, während er sein Heft um 90° dreht und ausklappt. Venka rollt mit den Augen. Ghandi rutscht interessiert rüber. Pfeift ebenfalls.

Schweigen.

Dimmi blickt auf, studiert die Gesichter der anderen. „Sagt mal, seid ihr down oder so ?“

Schweigen. Verächtliches Schnauben.

Humorloses Lachen.

„Okay.“ Er setzt sich auf. „Ich werd‘ euch ne Geschichte aus Omsk erzählen, weil da komm‘ ich nämlich her.“

„Bitte, Dimmi, mir ist auch so schon schlecht.“

„Nu sei mal nicht so verweichlicht, Venka, in Omsk haben wir viel strengere Winter als dieses bißchen Schneetreiben hier. Mann, in Omsk wars mal so kalt, daß den Leuten die Augen zu Eiswürfeln gefroren sind…“

„… und die Kinder macht der Papst.“

„Nee, echt. Weihnachten in Omsk, da wird’s so kalt daßde nichmal’n Tannenbaum fällen kannst, weil der ganze Stamm durchgefroren ist. Hart wie Granit ist das Eis da. ‚N Kumpel hat mal versucht in so ’nem strengen Winter mit’m Kettenmolch so’n Ding umzulegen, und auf einmal sind ihm die Metallspitzen der Sägkette um die Ohren geflogen.“

„Laß mich raten – und die haben ihm ganze Fleischfetzen aus dem Gesicht gehauen, aber er ist trotzdem noch 100km nach Hause gejoggt und hat Weihnachten gefeiert.“

„Ach, Du kennst Michail ?“

Schweigen.

„Das ist ja nicht zum Aushalten mit euch. Okay, um euch vonner Kälte abzulenken: Also, in Omsk, da war’s in nem Sommer mal auf einmal so brachial heiß, daß die Ratten auf der Straße explodiert sind. Ham sich aufgebläht und KABWORF flogen einem Fellfetzen umme Hauer. Dabei sind die Biester schon unaufgebläht riesengroß. Vergeßt diese Laschratten, die wo se im Fernsehen immer zeigen, diese Teufelsmäuse. Mann, in Omsk sind die Ratten so groß, daß wir Mongolen unsere Kinder drauf reiten lassen…“

„Ghandi, gibst Du mir mal den Wodka ?“

„… und wennse zu Weihnachten so richtig fettgemästet sind von dem laschen Tourivolk, was bei uns rumhängt, dann werdense gepökelt. Kannste…“

„Wie spät ham wir’s eigentlich ?“

„…ganze Monate von leben, sag ich Dir. Und das andere Crittervieh erstmal…“

„So gegen 17:30 müßt’s sein – bei meiner Uhr sind die Zeiger festgefroren.“

„…was die sich immer aufregen von wegen Critter in Sibirien. Alles Quark. Das ganze ECHT gefährliche Viehzeug findste nur in Omsk, Alter. Da is‘ nischt mit Wumme raus. Granaten, sach ich euch, ’s das einzige was wo hilft. Ich steh‘ ja eigentlich mehr auf Bazookas und so, sin‘ aber in Omsk schwer zu beschaffen. Da kannste nicht einfach ma kurz anne Ecke gehen und Wummen kaufen, Alter, in Omsk mußte noch richtig kämpfen…“

Venka blättert in Dimmis Pornoheft.

„… mit Fäusten gegen Critterbären, Mann, die sind so groß, daß Ghandi dagegen wie Wolodja aussieht…“

„… Hm ? Was ?“

„… und die haben Pranken, die sind so groß, daß wir das Fell von denen als Sessel verwenden, echt ohne Scheiß. Wenn die Sülze hier vorbei ist, müßte mich ma in Omsk besuchen kommen – wenn ihr den Weg dahin überleben solltet. Hahahahahaha.“

Mit einer Militärmarke kann man sehr schöne Muster in den Handrücken pressen.

Dimmi reagiert nicht auf die hängenden Gesichter, plappert weiter von Omsk.

Tolstoi schwingt sich in seine Liege, starrt zur Decke. Über die aus Preßplatten bestehende Decke ziehen sich Muster aus Nässe und Schimmel. Ausgefranste Klumpen in braun und grün hängen dort wie abnorme Zerrbilder von treibenden Wolken.

Er beginnt damit, sich die Nasenlöcher auseinanderzuziehen, was angesichts zusammengefrorener Haare ein schmerzhaftes Unterfangen darstellt. Sein ganzer Körper kribbelt kühl von der Wärme und der Ruhe, in der er sich befindet.

Er blättert in seinem schwarzen Lederbüchlein. Findet die Seite, auf der sich die Zeichnung der Zimmerdecke befindet. In der Zeichnung sind die Schimmelflecken Wolken, auf denen fern Schlösser zu erkennen sind. Dazwischen hat er gestern den schwarzen Leib eines Drachen gemalt, von dem er geträumt hat.

Träume sind etwas seltsames. Er legt die Stirn in Falten, überlegt, was der Drache für ihn darstellen soll. Ist er ein Symbol des Krieges, der mit schwarzen Schwingen auf ihn zukommt ?

Er korrigiert den Ausdruck der Augen, schwarzt einige der Schuppenpartien nach, bis er den Eindruck hat, das Bild sei ‚richtig‘. Dann schiebt er das Buch unter das Kissen zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und döst unter den vertrauten Geräuschen des Quartiers vor ein.

– – –

„Hey, Tolstoi – wach auf.“

Verschlafen wischt er sich über die Augen. Das Bild des schwarzen Drachen hat ihn im Traum verfolgt. Die letzten Bilder des Traumes entgleiten ihm.

Ein dürres Land, über das ein toter Wind fegt. In der Ferne die schroffen Konturen einer Stadt, über der ein massiver Leib mit gigantischen schwarzen Schwingen hängt.

Feuer überall. Menschen schreien.

Er blickt sich zum Gesicht des Mongolen um, dessen Stirn eine steile Falte aufweist. Ihm wird gewahr, daß die anderen in eine lautstarke Diskussion verwickelt sind. Angst liegt in der Luft.

„Wasn los ? Ist der Weihnachtsmann im Streik ?“

Dimmi versucht sich ein Lächeln abzuringen, versagt aber kläglich.

„Schön wär’s. Die haben gerade die Nachrichten durchgegeben.“

Tolstois Nackenhaare richten sich auf.

„Und ?“

„Russische Tswetok-Jäger haben Berlin bombardiert.“

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