Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 04 | Die Brut des Drachen (9)


HAMBURG – 2044

Die fremde, vertraute Frau und das Kind verblassen in der Entfernung, noch ehe er antworten kann. Er driftet nun durch die Leere, ihre Worte hallen durch seinen Kopf.

„Was hast Du getan ?“

Wie, was habe ich getan ? Was soll ich denn getan haben ? Ich bin weggegangen, das habe ich getan. Ich habe mein BTL-Gerät auf Loop geschaltet, für Stunden, nehme ich an. Was ich getan habe ? Ich habe der Sache ein Ende bereitet, was denn sonst ? Hast auch Du, fremde Schönheit, von mir erwartet, daß ich Nikuriels Weg gehe ? Schade, das hätte ich nicht von Dir gedacht. Ich dachte, wenigstens Du, vor allen, würdest mich verstehen. Was muß ich für ein Leben gehabt haben, daß nicht einmal Du meinen Tod verstehen kannst ? Wo bist Du jetzt ? Nimmst Du mich nicht mit? Habe ich nicht einmal das Recht auf meinen eigenen Tod ? Das Recht, „nein“ zu sagen ? Hallo ? Wo bist Du ?

Was habe ich getan ? Was hätte ich denn tun sollen ? Hatte ich je wirklich eine Wahl ? Hat nicht etwas oder jemand jeden Faden gekappt, an den ich mich hätte hängen können ? Mein Leben ist eine Reihe von Stationen, der Weg der Geleise vorgezeichnet. Wenn Du in einem Zug nach nirgendwo fährst, hast Du nur eine wirkliche Entscheidung, die Dir gehört: Abspringen.

Wann, sage mir, hätte ich diese Straße verlassen können ? Zählt mein Wille denn gar nicht ? Warum schweigst Du ? Warum bist Du weggegangen, Du und Dein fremdes Kind ? Wie habe ich Deinen Zorn erregt, womit Deine Verachtung verdient ?

Welchen Gott habe ich so beleidigt, daß er mir dies antut ? Und ist dieser Gott so ohne Gnade, daß er mir nicht wenigstens jetzt eine einzige Frage gestattet zu stellen ?

Wer ist Nikuriel ? Habe ich ihm sein oder er mir mein Leben geraubt ? Bin ich er ? Ist er ich ? Sind wir dasselbe ? Hätte er ebenso entschieden wie ich ? Ist er mein Vater ? Wer ist Tolstoi ? Bin ich verrückt ? Bin ich tot ? Spielt das eine Rolle ? Für mich nicht, nehme ich an, aber für die anderen. Ich habe ihr Mitleid gesehen, weißt Du ? Der gute alte Rote Wolke. Die gute Zaira. Aber ich war nur eine Belastung für sie, und ich will für niemanden eine Belastung sein. Die Leute da draußen, sie sehen mich alle an. Einfach so, mit ihrem seltsam fremden Blick.

Wo soll man denn hin, wenn einen niemand erkennt ? Wohin, außer zu Dir ?

Wo bist Du jetzt ? Soll ich denn hier ewig weitertreiben ? Ist das mein Schicksal ? Wo sind die anderen ? Wo ist meine Nadja ? Hey, SIE muß doch wenigstens hier sein, irgendwo. Nadja ?

NAAAADJAAAAAAAAAAAAAAAAA !!!

Die Dunkelheit weicht einem grauen Zwielicht, gleich als ob sie vor Tolstois Augen auseinasnderbrechen würde. Er stürzt auf dieses graue Licht zu, sinkt zur Mitte des Lichtes nieder.

Die Töne hallen hier, verlieren sich im grau-schwarzen Schleier. Seine Füße berühren sanft einen Boden aus Pflastersteinen. Eine alte Öllaterne wirft weißlich-fahles Licht in die Gasse. Er wendet sich um, sieht aber nur die Allmacht des Nebels rings um ihn herum. Den Nebel, der weich und kühl um ihn treibt, und vor sich ein Haus.

Die Fassade des Gebäudes ist alter Backstein, die Steine verklebt mit dürrem Moos. An der Wand treiben Plakatfetzen, die kyrillische Schrift vergilbt und verwaschen. Von irgendwo aus dem Haus klingen die Töne eines Klaviers. Sacht. Vorsichtig. Die Finger, die über diese Tasten gleiten, weben ein feines Muster von Tönen, behutsam, als fürchteten sie, diesen Ort zu zerbrechen.

Tolstoi schließt die Augen, hört der Musik zu. Er kennt sie von irgendwoher, ein unablässiges langsames Summen feiner Saiten, deren Klänge sich enger und enger zu einem Muster verweben.

Einem Muster von Musik.

Einem Muster von Macht.

Einem Muster von Magie.

Vorsichtig prüft er die Tür vor sich, deren eichenholzgetäfelte Form sanft qietschend nach innen schwingt. Ihr Quietschen klingt wie ein vergessenes Geräusch aus einem fernen Garten, ein leiser Schrei von Glück und Trauer, der ihn erschauern läßt.

Er tritt vor, findet mit seinem Fuß eine Treppenstufe, dann noch

eine. Das Haus riecht muffig, aber vertraut. Er saugt den Geruch tief ein, formt Bilder in seinem Bewußtsein. Genau so roch es in Nadjas Haus in Kiev, Ulitsa Ljeto 14.

Sein Herz schlägt schneller. Er hastet an den teilnahmslosen Reihen der Briefkästen vorbei, nimmt im Aufstieg zum ersten Stock zwei Stufen auf einmal, hält erst auf dem Absatz zu ihrer Wohnung inne.

Durch die angelehnte Tür klingt noch immer diese eine Musik,die sie früher so oft spielte. Er erinnert sich daran, sie einmal nach dem Komponisten gefragt zu haben, doch sie hatte ihm nur lächelnd geantwortet: „Das hat ein lieber Freund einmal für mich geschrieben, vor sehr, sehr, SEHR langer Zeit…“

Er schließt erneut die Augen, der Kopf ruhend am schweren, dunklen Holzrahmen der Tür, der Blick fixiert auf die Stukkaturen der Decke des Treppenhauses.

Schließlich betritt er den engen Flur ihrer Wohnung, kommt zur Tür zu ihrem Zimmer, lehnt im Rahmen. Über den Boden des Zimmers treiben, von einem unsichtbaren Atem bewegt, lose Seiten schwarzer Bücher, die sich auf Stühlen und Kisten stapeln. Durch den lichten Rahmen des Fensters erkennt man nur das fahl-weiße Leuchten der Laterne, deren Licht sich im Nebel verliert, unterdessen die Finger der jungen Frau am Klavier unablässig Töne von solch makelloser Reinheit emporwerfen, daß es einem das Herz zerreißen möchte.

Tolstoi betrachtet seine Liebste, seine Nadja. Sie sieht ärmlich aus, wie sie da so an ihrem Klavier sitzt, das Haar zerzaust und länger als früher, wirr und kraus.

Und doch scheint sie ihm schöner zu sein als jemals zuvor. Fast ist es so, als wären Zeit und Raum und äußere Gestalt unwichtig, wie alles an diesem Ort eigentlich unwichtig zu sein scheint, alles außer der Bewegung ihrer Hände und dem Gesang der Saiten.

Tolstoi weiß, daß sie ihn nicht sehen kann. Nicht hören kann. Er weiß, daß seine Zeit hier begrenzt ist. Und er schweigt. Und hört zu. Was hätte er auch zu ihr zu sagen ? Alles, was je zwischen seiner und ihrer Seele zu sagen wäre, klingt in diesem einen Lied.

Ich lebe, Tolstoi, und ich vermisse Dich.

Ich weiß, Nadja, ich vermisse Dich auch.

Du hast Schlimmes getan.

Ich weiß, es tut mir leid.

Was wirst Du tun ?

Ich weiß es nicht.

Ich… habe Dich oft angelogen, Nikolai

Ich weiß, Nadjuseanel.

Ich habe meine Pflicht vergessen und Dich nichts gelehrt, was ich hätte lehren müssen.

Oh, doch. Von allen Dingen dieser Welt hast Du mich das Wichtigste gelehrt. Dafür werde ich Dich immer lieben.

Als Nikolai.

Als Nikuriel.

Als Tolstoi.

Als Nadja

Als Nadjuseanel.

Leb wohl, mein Leben.

Ja tebja ljublju, mon coeur.

Do-swidanja.

Alles andere ist ohne Bedeutung. So wie er in der Zeit seit damals manche Frau begehrt hat, hat sie das ihre getan. Es ist ohne Bedeutung und erfordert kein Vergeben. Diejenigen Menschenwesen, die keine Liebe kennen, mögen es Dummheit oder Blindheit nennen, aber den wahrhaft Liebenden ist es gleich. Ein jeder im Leben von ihr und ihm wird spüren, daß sie und er nicht mehr zu besitzen sind. Manche wenden sich ab, andere geraten in Zorn darüber. Aber es ist, was es ist, und gut.

In diesem Moment, an diesem Ort, ist nur wichtig, daß es sie und ihn noch gibt. Zeit und Raum und Einsamkeit spielen keine Rolle mehr, weiß man erst, daß irgendwo da draußen jemand liebt.

Tolstoi bemerkt das Verblassen des Lichtes, weiß, daß seine Zeit des Abschiedes gekommen ist. Er schließt seine Augen, unterdessen er die wahre Welt näherschreien hört. Er weiß, daß es ihm nicht gefallen wird, was er, zurück auf der anderen Seite, im fremden Land, sehen wird. Schlimmer als alles andere, was ihn dort erwarten mag, wird er sich selbst sehen müssen.

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