Shadowrun Berlin

Die Online Erweiterung von Andreas AAS Schroth

Drachenbrut 04 | Die Brut des Drachen (4)


HAMBURG – WEIHNACHTEN 2035

Schneeflocken treiben in Kreisen durch die Straßen. Auf den Gehwegen drängen sich Mäntel und Pelzjacken aneinander vorbei. Tücher, Hüte und Schals verbergen die Gesichter, die Hände in den Taschen oder um bunte Pakete geschlungen.

Bunte Lichter erleuchten die Gehsteige, zeichnen scharfe dunkle Konturen um den zusammengesunkenen Körper gegenüber dem Einkaufszentrum Rathausstadt. Schnee bedeckt seine Schultern, seine Arme, seine Beine, sein Haar. Seine Stiefel haben Löcher. Seine Handschuhe hat man ihm gestohlen.

Er hat ein Pappschild vor sich aufgestellt, bekritzelt mit den einzigen Worten dieses fremden Landes, die er kennt, und er kennt sie gut:

HUNGER. KALT. BITTE HILFE !

Ein Schneepflug bläst Fontänen von Schnee über ihn. Kälte, die sich in seine Wangen beißt, vermischt mit dem Geschmack von Chemo-Salz.

Weihnachten war früher eine gute Zeit zum Betteln. Gewissenserleichterung für die Reichen.

Heute nicht. Nicht für ihn.

Geld klimpert in der Mütze eines Bettlers wenige Schritte entfernt. Fröhlich verneigt er sich, wünscht ein gesegnetes Weihnachtsfest. Wünscht ein frohes neues Jahr.

Der Unterschied zwischen der halberfrorenen Gestalt an der Mauer und dem Alki ist ebenso klein wie entscheidend: Der Alki ist Deutscher. Der andere ist Russe. Einer von denen, die Deutschland angegriffen haben. Einer von denen, der geraubt und geplündert hat, der vergewaltigt und gemordet hat.

Tolstoi hat es gesehen, im Schaufenster eines Fernsehgeschäftes. Es war ein Spielfilm, der Kassenschlager des letzten Jahres: „Mission Nightwraith“. Joachim Berenborg in der Hauptrolle, mit Nastassja Velankova als die böse KGB-Agentin. „Nach einer wahren Geschichte.“

Kaum einer in Deutschland, der den Film nicht gesehen hat – und geglaubt hat. Tolstoi hat ihn auch gesehen, 2 Tage nachdem er in Hamburg angekommen war. Geglaubt?

Friede auf Erden – und Tod allen Russen.

Merry Christmas.

Müde kratzt sich Tolstoi den Schorf von der Stirn, Spuren einer Begegnung mit Jugendlichen vor einigen Tagen. Keine Skinheads. Keine Gang-Leute. Ganz normale Corp-Kids. Zuerst warfen sie Steine, dann haben ihre Bodyguards auf ihn geschossen.

Seine Wunde am Bein hat sich entzündet. Trotz der Kälte ist ihm zum Ersticken heiß. Mehr noch als nach Essen und Wärme sehnt er sich nach jemandem, mit dem er reden könnte. Aber er sieht nur Stiefel und Mäntel-enden, Silhouetten von goldsternbemalten Paketen und Fröhliche-Weihnacht-Taschen.

Die Hilfseinrichtungen für Arme haben seit den Eurokriegen ein neues Schild: „Kein Zutritt für Kriegsverbrecher.“

Alle Russen sind Kriegsverbrecher – sogar die Kinder.

Er hat sich an den Elfenschutzbund gewandt – aber auch die konnten ihm nicht helfen. „Du wirst nicht wegen Deiner Rasse verfolgt – und unser Geld ist knapp, verstehst Du ? Geh doch zu den Armenhäusern, da wird man Dir helfen.“

Danke, Brüder.

Tolstoi hat gehört, daß es irgendwo Internierungslager für Illegale Einwanderer aus Rußland geben soll – KZs, mit anderen Worten. Sein Blick streift die Werbetafeln am Haus gegenüber, das leuchtende Logo von MItsuhama, von SK, von Toshiba-Nikon.

Die Megakorps haben gesiegt – auf der ganzen Linie. Ihm ist, als lachten die Werbeschilder über ihn.

Nichts wirst Du haben. Nichts.

Er will die Lippen zu einem Lächeln verziehen, doch bereits der Ansatz der Bewegung läßt sie aufspringen. Vor Schmerz hält er inne, fingert in seinen Taschen nach dem Gefühl schwarzen Leders.

Er holt eines seiner Bücher hervor, blättert durch die Seiten. Hält inne.

Auf der Seite, die vor ihm liegt, ist die Zeichnung eines Ankh. Es ruht auf der sanften Wölbung in schwarzen Stoff gehüllter Brüste. Er weiß nicht mehr, wann er es gezeichnet hat. Es ist auch egal. Er blättert um, betrachtet die Rückseite des Blattes. Nur ein kleiner Vers steht darauf, und ein ziemlich schlechter noch dazu, dessen tieferer Sinn ihm irgendwann abhanden gekommen ist:

Seelen treiben haltlos

durch Zeit und Raum,
durch Dunkel und Licht
durch Liebe und Angst
durch Elend und Freude

Ohne Sinn gleiten sie
von Traum zu Schicksal
von Wahrheit zu Leid
von Zweifel zu Wahrheit
ohne zu wissen, warum.

Wir wissen nicht, auf welchem Baum wir gewachsen
Wir wissen nicht, welchem Blatt auf unserem Weg wir begegnen werden
Wir wissen nicht, ob es der Wind ist, der uns treibt, oder unser eigener Sinn

Und doch landen wir alle auf diesem einem Grund
Ob reich, ob arm
Ob Alb, ob Mensch
Ob Drache, ob Prinz

Wir alle landen
In ihrer weißen Hand.

Und dies ist es,
was meine Tränen trocknen läßt,
denn wo Gewißheit ist
ist Stärke.

Er runzelt die Stirn. Der Sinn des Gedichtes ist ihm verloren. Erkaltet. Verhungert. Das Blatt nur ein weiteres Blatt, eines von vielen. So vielen.

Anfangs hat er sich gelobt, sich jedes einzelnen Blattes zu erinnern. Doch heute schon hat er sie alle vergessen. Fragmente bleiben, hallen nach in seinem Kopf, doch da sie ohne Halt und Sinn sind, verblassen sie.

Er zwinkert kurz, als er die gefrierende Feuchtigkeit am Rand seiner Augen bemerkt, dann reißt er das Blatt aus dem Buch heraus.

Legt es sorgsam auf dem Boden zusammen.

Und zündet es an, um sich die erfrierenden Finger zu wärmen.

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